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Tag der geschlossenen Tür

Tag der geschlossenen Tür

Titel: Tag der geschlossenen Tür Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rocko Schamoni
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schon den größten Gestalten der Geschichte zwischen die Beine geschaut. Aber manches erstaunt selbst sie. Dann öffnen Polizisten die Barrieren, und der endlose Strom der Gottlosen ergießt sich erneut über das Terrain.

Unerwarteter Besuch
     
    I ch sitze vor meiner Tastatur. Ich warte auf die Worte. Ich bin der Empfänger der Ware am Bahnhof der Worte, man lasse sie einfahren. Wo bleiben die Worte?
    Achtung, eine dringende Eildurchsage – die Worte, die heute für elf Uhr erwartet wurden, verspäten sich um mindestens zwei Stunden. Vielleicht fallen sie auch ganz aus. Vielleicht fallen sie für immer aus. Es gibt einen großen Wortstau in Berlin, die Worte für den Bereich Hamburg fallen leider für immer aus. Wir werden versuchen, Ihnen einen adäquaten Ersatz zu liefern. Wir könnten Ihnen zum Beispiel Zahlen liefern. Zahlen passen gut nach Hamburg. Die Deutsche Bahn, die Telekom und die Firma Vattenfall übernehmen die komplette Verantwortung  für dieses Desaster. Dürfen wir Ihnen zur Entschuldigung ein Prostitut Ihrer Wahl anbieten?
     
    Ein leises Gonggeräusch weckt mich aus meinem Wartezustand auf. Eine Mail von Susanne aus der Redaktion:
     
    Lieber Sonntag. Was soll ich zu der Kolumne sagen? Nicht, dass ich das nicht komisch finden würde, was Du da so schreibst, aber ich kriege es ja immer mit, wie Breuer auf den Redaktionssitzungen darauf reagiert, und ich kann Dir nur sagen – der steht überhaupt nicht auf diesen Stil. Der versteht das gar nicht. Ich will es Dir nur sagen, was Du damit anfängst, ist Deine Sache. Vielleicht kannst Du es ja in Zukunft etwas abmildern. Oder die Pointen klarer setzen. Wie dem auch immer sei, ich kann nicht mehr tun, als Dir zu erklären, wie es hier aussieht,
    alles Liebe – Susanne
     
    Susanne sorgt sich um mich. Warum tut sie das eigentlich, ohne mich in irgendeiner Form zu kennen? Bis auf den Kolumnenkram, den ich ihr vorlege. Ist die Sympathie, die ich zu spüren meine, Missdeutung? Und die Abschiedsformel »alles Liebe«, wie soll ich die deuten? Ist alles zwischen uns Liebe? Ich würde gerne mehr über Susanne wissen. Ich werde in die Redaktion gehen, um sie zu treffen. Um sie unerkannt zu beobachten. Ich spüre eine leichte Aufregung.
    Ich versuche mich wieder zu versenken, versuche wieder in das Nichts der Empfänglichkeit einzutreten. Ich warte und starre, bis meine Pupillen nichts mehr fokussieren. Mein Blick löst sich von dem unbeschriebenen Blatt. Wandert über meinen Schreibtisch, auf das Seidenpapier meines Fensters, das mich mit violettem und aprikosenfarbenem Licht umfängt, dann wandert mein Blick zurück aus dem Sichtspalt über die regennassen Bäume, bleibt an einem schwarzen Vogel hängen, der in den Ästen zu ertrinken scheint, er macht müde, japsende Bewegungen, wandert zurück in meinen Raum und bleibt an einer kleinen Stubenfliege hängen, die mit gekreuzten Beinen auf meiner Fensterbank auf dem Rücken liegt. Sie ist tot. Sie ist mir noch nie aufgefallen. Vielleicht ist sie neu hier?
    »Oh, Entschuldigung, dass ich vergessen habe, mich vorzustellen: Mein Name ist Totelinchen, die tote Stubenfliege. Ich bin neu hier.«
    Ich schweige eine Weile, ich bin zu erstaunt, um antworten zu können.
    »Hallooo?«
    »Entschuldigung. Ähh, das ist aber ein netter Besuch. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
    »Jaja …«
    »Nein, im Ernst, es ist schön, heute nicht alleine zu sein. Also willkommen in meiner bescheidenen Behausung.«
    »Wenn ich Ihnen nur glauben könnte. Aber ich habe das Gefühl, dass Sie nur höflich sein möchten.«
    »Nein wirklich, Fräulein Turtelinchen.«
    »Totelinchen! Ich heiße Totelinchen. Weil ich tot bin. Und ich bin nirgendwo willkommen …«
    »Aber …«
    »Ich bin nichts wert, ich bin nur eine tote Stubenfliege. Noch nicht mal ein kleines Grab hat man mir zugestanden, ich könnte überall auf der Welt herumliegen, und niemand würde es bemerken. Weder mein Leben noch mein Sterben haben irgendeine Bedeutung gehabt.«
    Ich höre leises Fliegenweinen. Der Schnodder rinnt Totelinchen durch die Tracheen, sie scheint verzweifelt. »Totelinchen, nun hören Sie schon auf zu weinen. Ich habe Sie doch bemerkt. Sie sind mir aufgefallen, und ich habe Sie willkommen geheißen. Also?«
    »Na ja, vielleicht haben Sie recht. Ich sollte dankbar sein für die Einladung. Ich habe halt nur schon so viel Leid und Unrecht erfahren. Hier, am unteren Ende der Nahrungskette, herrscht reines Elend, das können Sie mir

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