Tag der geschlossenen Tür
Wird man mich suchen? Wird man mich nach einer Rechtfertigung fragen wollen? Wird man mir kündigen wollen? Man kann mir nicht kündigen. Ich bin Nichtangestellter auf Lebenszeit. Und wenn sie mich suchen und finden sollten: Ich bin bereit.
Ein Feind wird geboren
E s dröhnt dumpf durch das Treppenhaus. Musik und Wortfetzen. Ich sitze mit einem Mangojoghurt vor meinem Rechner und versuche mich zu konzentrieren, aber es geht nicht. Diese dumpfen Geräusche stören meine Aufmerksamkeit. Weil dahinter die Unaufmerksamkeit von einigen wenigen allen anderen gegenüber steckt. Meiner Überzeugung nach sind die meisten Menschen in ihrem Innersten absolut asoziale Wesen, sie leben in Gruppen oder Familien einzig zu ihrem persönlichen Vorteil, und die vorgespielte Sozialität ist eine Maskerade, hinter der, wenn ein rauer Wind diese Tarnung hinfortrisse, etwas Gefräßiges zum Vorschein kommen würde. Dort unten lebt jemand mal wieder sein eigentliches Wesen aus. Und wenn ich jetzt meinem eigentlichen Wesen folgen würde, müsste ich die Treppe hinunterspringen und mit einem Gummihammer bewaffnet dessen Wohnung stürmen, um unseren Disput ein für alle Mal zu beenden. Warum tue ich das nicht? Einmal nur meinen innersten Impulsen folgen und zu meinen verdeckten und verdrängten Ebenen stehen. Stattdessen werde ich weiterhin so tun, als wäre ich ein zivilisierter Mensch. In Wahrheit bin ich ein Tier mit Worten im Kopf.
Ich beschließe herauszufinden, wer mein Feind ist. Die Musik tönt von weiter unten, ich vermute, sie kommt von unserem neuen Nachbarn. Während ich die Stufen hinabsteige, verstummt die Musik auf einmal. Ich stehe vor der ehemaligen Wohnung des alten Herren, die Tür ist immer noch nicht wieder eingesetzt, und im Rahmen hängt nach wie vor die Flagge mit der Aufschrift »0002 todesnah«. Wie mag der neue Nachbar aussehen, was ist das für ein sonderbarer Typ, wo er doch schon seit Tagen ohne Wohnungstür lebt? Ein Luftzug weht durch den Türrahmen, die Flagge hebt sich ein wenig, ich halte sie mit dem Finger oben, im Wohnungsflur dahinter sehe ich einen großen beleuchteten Spiegel, die Wände und der Boden sind glänzend schwarz lackiert, im Zimmer am Ende des Flurs steht ein nobles Sofa mit goldenen Armlehnen vor einer kahlen Ziegelwand, auf dem Boden liegen Weinflaschen, ein totes Kaninchen und ein Präservativ.
Ich höre tapsende Fußschritte und beobachte, wie ein nackter Mann an der Zimmertür vorbei durch den Raum geht, seine Augen sind mit einer schwarzen Krawatte verbunden, die halblangen grauen Haare quellen wild darunter hervor, er hält ein Silbertablett vor sich, auf das er seinen Schwanz gelegt hat. Ich höre ein Frauenlachen, dann geht die Musik wieder an. Wagner. Abstoßend. Ein widerliches, dekadentes Schauspiel, aufgeführt, um uns Mitbewohner zu demütigen. Die Wohnungstür kann man nicht schließen, um dem Lärm zu entgehen, es gibt ja keine. Ich halte immer noch den Joghurt in der Hand, ich recke meinen Arm und lasse den gesamten Inhalt samt Mangofüllung in den Flur auf den schwarzen Boden platschen, die beiden da drinnen bekommen davon sowieso nichts mit. Dann schreibe ich mit dem kleinen Finger »asozial« in den Joghurtbrei. Ein wenig besserer Laune mache ich mich auf den Weg nach oben. Ich verbleibe in der Hoffnung, dass die neuen Mitbewohner entweder aus meiner Botschaft lernen oder darin ausrutschen mögen.
Der Antrag
A m Freitagabend klingelt es um acht Uhr. Eine Frau
steht vor der Tür. Ich beobachte sie durch den Spion. Sie gefällt mir in ihrem weißen, gegürteten Leinenkleid, mit den Cowboyboots und der blonden Dauerwelle. Irgendwie billig sieht sie aus, aber gut. Sie trägt eine Pilotenbrille mit gelben Gläsern und schaut ungerührt auf den Spion. Irgendwann fängt sie an zu grinsen. Sie legt den Kopf schief und macht eine tonlose Lippenbewegung, die ich als »komm schon« interpretiere. Sie hebt die Hand, und eine Flasche Sekt wird sichtbar. Genug gespielt, ich öffne die Tür, grinse sie ein wenig verlegen an, dann tritt sie ein und gibt mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Entschlossenen Schrittes geht sie in die Küche und öffnet die Flasche, gießt sich ein Wasserglas mit Sekt ein, zündet sich eine Zigarette an und setzt sich. Während sie trinkt, mustert sie mich interessiert.
»Wie geht’s dir, mein Schatz? Ich habe die ganze Woche von dir geträumt. Ich habe im Schlaf immer deine Hände vor meinem Gesicht gesehen. Das hat mich ganz kirre
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