Tag der geschlossenen Tür
Haar und den Pickeln um die Nase. Respekt vor der Kunst würde ich ihm jetzt gerne in seine Pubertantenfresse bläuen, aber ich muss die Contenance wahren. Ich lasse seine Hand los und mustere ihn streng, dann gehe ich weiter.
Der Lehrer hat von dem Zwischenfall nichts bemerkt. Aber für mich war es mein erster echter Einsatz, und ich fühle mich stolz und erfüllt von der Ernsthaftigkeit meiner Aufgabe. Ein paar Meter weiter unterhalten sich einige Mädchen ziemlich laut. Sie spucken sinnlose Brocken über Lipgloss, Haarextensions und Bauchnabel-Piercings in den Raum, keine von ihnen wirft auch nur einen Blick auf die Welt meiner Stiche. Ich möchte sie am liebsten an den Haaren aus dem Raum schleifen, so verletzt fühle ich mich stellvertretend für das Museum und die Kunst. Ich stelle mich hinter sie, hole Luft und zische sie wie eine Schlange an, erschreckt drehen sie sich um, bemerken intuitiv ihr Fehlverhalten und verstummen. Ihren von Hormonen geschwängerten und verdunsenen Gesichtern kann ich nur eine Botschaft entnehmen: widerliche Kunst! Widerliches Museum! Widerliche Erwachsenenwelt! Wie recht sie haben aus ihrer Perspektive. Dann treibt der Lehrer seine Schäfchen aus dem Raum, er spürt, dass es hier zu einer für ihn nicht überschaubaren Konfrontation kommen könnte, und erkennt meine überlegene Gegnerschaft an. Ich fühle mich bestätigt, respektiert und nicke ihm unmerklich zu. Das ist mein Dank an ihn. Nach dem Abgang der Klasse bin ich etwas ermattet und beschließe, für heute meinen Dienst zu beenden, es war ein anstrengender erster Tag. Immerhin bin ich der einzige Wärter, der kommen und gehen kann, wie es ihm beliebt. Und ich möchte den Vorteil meines Bessergestelltseins unbedingt auskosten. Ich stecke das Halstuch und mein Schildchen in die Jacketttasche und verlasse zufrieden das Museum. Die anderen Wärter würdige ich keines Blickes. Man möchte mich bitte jetzt in Ruhe lassen.
Ein weiterer strahlender Kristall
im Diadem
A m Morgen sitze ich im Bett und starre auf das
neue, komplett aufgeladene Handy. Das Handy von Marion Vossreuther. Der direkte Draht zu Marion Vossreuther. Sollte ich bei ihr anrufen und mich darüber beschweren, dass mich niemand anruft?
»So haben wir aber nicht gewettet, Frau Vossreuther, schließlich habe ich Ihnen das Handy abgekauft, damit ich Kontakt zu Menschen bekomme, aber jetzt ruft mich keiner an.«
»Entschuldigung, aber was kann ich denn dafür, wenn Sie keinen Menschen kennen?«
»Zumindest Sie hätten doch mal an mich denken können. Damit hatte ich eigentlich gerechnet.«
»Wieso sollte ich ausgerechnet an Sie denken? Ich habe noch tausend andere Kunden.«
»Ach so. Das wusste ich nicht. Ich dachte, das zwischen uns wäre nicht so profan. Habe ich mich wirklich in Ihnen getäuscht?«
»Verschwinde endlich aus der Leitung, du durchgeknallter Psycho.«
»Marion? … Hallo …? … Marion?«
Aber ich trau mich nicht, sie anzurufen. Ich wüsste nicht, wie ich das Gespräch beginnen sollte.
Also stehe ich auf und besinne mich, denn ich muss meine Kolumne schreiben. Das ist nicht einfach, vor meinem Fenster wird gebaut. Kräne hieven Baumaterialien durch die Luft, Lastwagen transportieren Beton und Kalksandsteine herbei, Fräsen kreischen, Bauarbeiter schreien. Andauernd wird in dieser Stadt gebaut. Diese Stadt wird permanent umgebaut. Diese Stadt wird nie fertig gebaut. Die alte Stadt wird gegen eine neue ausgetauscht. Und das, was gebaut wird, wird von vornherein auf Zeit gebaut. Um, wenn es abgeschrieben ist, wieder überbaut zu werden. In ein paar Jahren werde ich in einer anderen Stadt leben, ohne umgezogen zu sein. Und nach meinem Ableben wird von der Stadt, in der ich gelebt habe, nichts übrig geblieben sein, weil sie nur vorübergehend aufgestellt wurde, um sich zu rechnen und dann wieder entfernt zu werden. Alles Stehende verdampft. Unsere Zeit wird nicht feststellbar sein, wird herausradiert sein aus den Geschichtsbüchern, weil nichts als Beweis bleibt, nicht einmal Briefe, seitdem es Mails gibt.
Das meiste von dem, was gebaut wird, stößt mich ab. Architektur als Kunst der permanenten Belästigung. Der bildenden Kunst kann man entgehen, schließlich muss man nicht in die Galerien und Museen pilgern. Der Architektur kann man sich nicht entziehen, denn sie bestimmt das Bild der Stadt um uns herum. Nirgendwo entkommt man ihnen, diesen Stein, Glas, Stahl und Beton gewordenen Großmannsträumereien, diesen faden Visionen
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