Tag der geschlossenen Tür
einer transparenten und wohlorganisierten, aufgeräumten, geschmacklich abgestimmten und durchdesignten Businesswelt, diesen Festungen der geschäftsweltlichen Tristesse, diesen Bollwerken der Akkumulation.
Aber ich darf mich nicht ablenken lassen. Ich muss meine Kolumne schreiben.
Man will ein neues Hochhaus am Hafen bauen.
In einem Internetforum findet das jemand » richtig klasse « . Dennoch dauert es Jahre, bis das Projekt umgesetzt wird. Aber dann geht es los. Mehrere Baufirmen werden beauftragt. Sie machen sich bereit, und am Stichtag fangen sie an zu bauen. Leider kommt bereits am ersten Tag ein Bauarbeiter ums Leben. Er rutscht auf einem nassen Gerüstbrett aus und ertrinkt unbemerkt in feuchtem Zement. Nur ein Fuß schaut noch aus der Wand. Das ärgert den Vorarbeiter, weil ein schlechtes Licht auf die Baufirma fällt, aber er kann den Arbeiter nicht mehr bestrafen. Man sägt den Fuß ab und arbeitet weiter. Die Bauarbeiten gehen zwar voran, aber störend sind die häufigen Unfälle. Fast jeden Tag kommt es zu unangenehmen und ungeplanten Pausen durch Todesfälle. Nach zwei Wochen ist die Belegschaft gereizt und liefert nur noch schlechte Arbeit ab, jeder hat Angst, man achtet mehr auf die eigene Sicherheit als auf die Qualität des Baus. Dem Auftraggeber und Investor fällt die Schlampigkeit auf, die Wände sind an einigen Stellen schief, die Böden uneben, an vielen Stellen gibt es Blutflecken. Auch Knochen liegen herum. Nach einem Monat ist das Gebäude vier Meter hoch, und neun Arbeiter sind tot. Jetzt wird der Investor richtig sauer, er klagt die Stadt an. Die Ansprechpartner aus den städtischen Gremien sind äußerst erregt und planen einen Anschlag auf den Investor. Als er abends im Kreis seiner Familie in seiner Villa in Klein Flottbek sitzt, schießen mehrere Mitglieder der städtischen Gremien mit einer Panzerfaust auf das Haus. Der Investor und seine Familie kommen dabei zügig ums Leben, der Nachlass geht an die Stadt. Ein neuer Investor übernimmt das Projekt. Nun können die Bauarbeiten weitergehen. Alles läuft ungestört, es kommt nur noch selten zu Todesfällen. Nach zwei Jahren wird das Vorhaben zufriedenstellend abgeschlossen. Das Haus ist über siebzig Meter hoch und bietet auf mehreren tausend Quadratmetern elegante Wohnflächen und großzügige Büros mit einem atemberaubenden Ausblick über den Hamburger Hafen. Die zweistöckigen Lofts haben eine Größe von bis zu 400 Quadratmetern, sind mit edlen Materialien ausgestattet und von Topdesignern eingerichtet. Das Haus trägt den Titel » Kristall von Hamburg « , was viele Wohnungsinteressenten anzieht. Leider kommen der neue Investor und einige Arbeiter bei der Einweihungsfeier durch herabfallende Gerüstteile ums Leben. Aber Hamburg hat ein weiteres neues Wahrzeichen.
Ich lese wiederholt den Text durch und bleibe ohne eine Meinung dazu. Die entscheidende Frage in der Kunst ist: War das Risiko hoch genug, das ich eingegangen bin? War die Fallhöhe groß genug? Ich schicke den Text ab und hoffe auf eine Reaktion von Susanne.
Die Angst vor Sonntagen
E in weiterer beängstigender Sonntag zieht ins Land. Sonntag im Sommer bedeutet in dieser Stadt, dass die Massen auf komplett aberwitzigen Veranstaltungen dem Irrsinn huldigen. Sich dem absoluten, kollektiven Schwachsinn hingeben. Gemeinsam zu Abertausenden das Gehirn ausschalten. Dem dunklen Fürsten der Sinnlosigkeit bereitwillig wie die Lemminge ins Maul springen.
Ich wache auf von dem schweren Brummen der Motoren und weiß: Es ist mal wieder so weit, Gnade uns Gott – Mogo. Motorradfahrergottesdienst. Eine der grausamsten Großveranstaltungen Hamburgs. Ab morgens um zehn sammeln sich Zigtausende von Motorradfahrern aus ganz Deutschland in der Ost-West-Straße, parken dort ihre Motorräder und lauschen den verstärkten Stimmen eines Pfarrers und diverser anderer Redner, beispielsweise von Motorradzubehörherstellern. Einen solchen Aufruf, ein solches Aufeinandertreffen kann ich nicht ignorieren. Hier zeigt sich unsere Gesellschaft, wie sie wirklich ist. Wie jedes Jahr zu diesem Anlass kleide ich mich sorgfältig, mit einer deutlichen Tendenz zu Jeansmaterialien, um mich in der Masse zu assimilieren. Auch besitze ich noch ein paar alte Cowboyboots, die mir – einst vom Sperrmüll gerettet – jedes Jahr für einen Tag ihren treuen, tarnenden Dienst erweisen. Ich stecke mir eine Billigspiegelbrille ins Haar, dann verlasse ich das Haus, bereit für den totalen
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