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Tag der geschlossenen Tür

Tag der geschlossenen Tür

Titel: Tag der geschlossenen Tür Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rocko Schamoni
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glauben!«
    »Das kann ich mir vorstellen, aber hier am oberen Ende ist es auch nicht viel besser.«
    »Hahaha, jetzt auch noch Witze auf meine Kosten machen. Ich lach mich tot …«
    »Das ist Ihnen schon gelungen.«
    Sofort geht das Schluchzen wieder los. Jetzt ist es so weit, ich bin endgültig verrückt geworden. Ich höre tote Fliegen weinen.
    »Totelinchen. Bitte hören Sie auf zu weinen, ich habe es nicht so gemeint.«
    »So seid ihr Menschen. Aber wenn Sie es ernst mit mir meinen, müssen Sie sich um mich kümmern.«
    »Ist recht, Fräulein Totelinchen, ich werde mich um Sie kümmern. Was soll ich tun?«
    »Bitte bauen Sie mir eine Behausung, eine kleine, sodass Sie mich mit sich herumtragen können. Ich möchte bei Ihnen bleiben.«
    Mir bleibt nichts anderes übrig. Aus einer Streichholzschachtel und etwas Watte baue ich für Totelinchen ein Totenbett und lege sie hinein.
    »Ist es recht so?«
    »Ja. Und jetzt schließen Sie bitte die Schachtel, stecken sie in Ihre Tasche und lassen mich schlafen. Ich bin todmüde. Wir sprechen uns, wenn ich wieder erwacht bin.«
    Ich habe eine neue Bekannte. Eine neue Freundin, die an meiner Seite bleiben will. Vielleicht keine normale Freundin, wie andere Männer sie haben. Keine, die besonders gut aussieht, sich inspiriert kleidet oder extraordinäre Talente hat. Keine, die mich im Bett um den Verstand bringen wird. Eine, die eigentlich gar nichts kann. Außer tot zu sein. Aber das kann sie besser als jede andere. Sie ist die toteste Freundin, die ich je gehabt haben werde. Darauf bin ich stolz. Ich schließe den Deckel der Schachtel. Vorsichtig bugsiere ich sie in meine Hosentasche und fühle mich danach durch und durch gut.
    In den nächsten Tagen gehe ich unregelmäßig ins Museum. Es gibt immer wieder Momente, in denen ich meinen Beruf genieße, aber die Ödheit der Phasen, in denen niemand meinen Raum betritt, scheint uns grenzenlos. Dann sitze ich in der Ecke auf einem Schemel und starre auf die Schachtel mit Totelinchen. Öffne den Deckel. Warte auf ihr Erwachen. Sie schläft und schläft. Ein Museumswärter, der auf eine tote Fliege starrt. Längst habe ich mir Hintergrundmaterial zu allen Stichen und Künstlern besorgt und könnte jeden Besucher mit einem individuell angefertigten Informationspaket eindecken, aber ich tue es nicht. Denn ich will kein neumodischer serviceorientierter Besucherbetreuer sein, sondern ein klassischer Museumswärter. Ich bestehe darauf, Museumswärter alter Schule zu sein, vielleicht einer mit einem gewissen Hintergrundwissen, zuallererst aber bin ich Museumswärter und habe auf die Sicherheit im Hause zu achten. Ich bin ein Leibgardist der Kunst, nicht mehr und nicht weniger.
    Allerdings weiß ich nicht genau, wie lange ich diesen Beruf noch ausüben möchte. Immer wenn die Langeweile mich endgültig zu verschlingen droht, denke ich mir eine Krankheit aus, die mein Fernbleiben rechtfertigen könnte. Obwohl es niemanden gibt, dem ich meine Entschuldigung vorlegen könnte. Weil mich niemand vermisst. Wie ist es, wenn ich die Krankschreibung trotzdem einreiche? Diese Idee gefällt mir ausnehmend gut, und bevor ich gehe, schmeiße ich einen selbst ausgefüllten gelben Zettel in den Briefkasten des Museumsdirektorats.
     
    Sehr geehrtes Direktorium
    der Hamburger Kunsthalle.
    Sehr geehrter Doktor U. M. Schmede,
     
    aufgrund einer reizdarmbedingten schweren Kolik ist es Ihrem Freiangestellten und Wächter Herrn Luigi Lottkolder morgen auf keinen Fall möglich, zur Arbeit zu erscheinen. Auch besteht ein Verdacht auf Arteriosklerose, und ein beginnender radialer Bückschuh konnte ebenfalls diagnostiziert werden, was mit großer Wahrscheinlichkeit auf die bei Ihnen erschwerten Arbeitsbedingungen zurückzuführen ist. Herr Lottkolder klagt über stressbedingtes Harnstottern, zudem prägt sich das Phänomen eines schmerzhaften Lederdaumens bei ihm aus. Aus ärztlicher Sicht kann ich nur auf einen ausgedehnten Missstand der Verhältnisse in Ihrem Hause hinweisen und ersuche Sie, darauf zu achten, Ihre Angestellten besser zu halten. Herr Lottkolder wird, pflichtbewusst, wie ich ihn kennen- und schätzen gelernt habe, sobald es sein Zustand zulässt, wieder bei der Arbeit erscheinen, er sollte allerdings in den nächsten zwei Tagen streng das Bett hüten.
     
    Mit freundlichem Gruß: Dr. Schnabel
     
    Als Praxisadresse füge ich die meinige an. Die Vorstellung davon, was dieses Entschuldigungsschreiben im Direktorat auslöst, erfreut mich.

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