Tag der geschlossenen Tür
Benjamin, o Benjamin, wo war er jetzt bloß? Was dachte er in seinem wuchtigen und spärlich behaarten Schädel in diesem Moment? Was berührten seine roten, dickgliedrigen und schwieligen Hände gerade? Saß er auf seinem heiß geliebten Fendt-Trecker, um Gülle auszufahren, oder hielt er sich in seinem weitläufigen Schweinedunkelstall auf, um totgetretene Säue aus dem Modder zu ziehen? Benjamin, o Benjamin, dachte Claire immer wieder. Wie viel wir zwei zu tragen haben und wie viel wir zwei riskieren müssen, um für alle voranzugehen! Keiner versteht uns, man beäugt uns mit Misstrauen und Argwohn für den Mut, mit dem wir ihnen den Spiegel vorhalten. Aber wenn du in meinen Armen liegst, wenn du die kotverschmierten Gummistiefel und die alte Regenjacke auf den Boden geschmissen hast, deine derbe Wollunterwäsche und die harten Socken steif auf der Bettkante abgelegt sind, wenn du dann auf mir liegst mit deinem ganzen deutschen Gewicht und ich kaum noch Luft kriege, wenn ich die großen Poren auf deiner Nase aus der Nähe sehe, dann weiß ich, dass es alles richtig ist und einen tieferen Sinn hat. Denn wir zwei sind Europa.
Als die mutige, kleine Französin jetzt ihr schönes Gesicht im Badezimmerspiegel betrachtete, kam ihr eine verwegene Idee. Sie würde wieder Make-up auflegen. Aber kein normales, nicht das übliche zarte Rouge, das ihre Seriosität so gut unterstrich. Ab heute würde sie mit anderen Tönen arbeiten – und zwar mit den Farben des Erbfeinds, mit den Farben der deutschen Nationalflagge. Schwarz umrandete sie ihre Augen, Rot legte sie auf ihre Wangen, und die Lippen schminkte sie golden – das war ihre Form, sich zu ihrer Liebe zu bekennen, und jeder sollte es sehen: Ich liebe einen Deutschen. Und ein Deutscher liebt mich. Denn sie wusste, dass Benjamin mitziehen würde, weil die Farben der Französischen Revolution, Blau-Weiß-Rot, zugleich die Farben seines Heimatlandes waren – Schleswig-Holstein …
So weit, so gut, dieses als ersten kleinen Appetitanreger, ich hoffe, Sie haben Hunger auf mehr bekommen.
Mit freundlichem Gruß – Ihr Michael Sonntag
Ich beschließe, dieses gelungene Manuskript gleich an mehrere deutsche Verlage zu schicken, da ich mir wohl berechtigte Hoffnungen auf eine direkte Ablehnung machen kann. Endlich habe ich wieder eine Lebensperspektive.
Die Liebe der einfachen Leute
I ch habe mir eine Stadtzeitschrift gekauft, um mich über die dort angekündigten gesellschaftlichen Ereignisse zu informieren. Ich meine mich wieder etwas mehr am öffentlichen Leben beteiligen zu müssen, um diesen zarten Duft von Vitalität auf Susanne wirken zu lassen. Ich möchte auf sie nicht den Eindruck eines weltfremden Eremiten machen. Es soll ihr nicht auffallen, dass mir mein fortgeschrittenes Alter schon die meisten Hoffnungen auf ein Ankommen im Leben verkocht hat.
Die Stadtzeitschrift hat viel zu bieten für Menschen mit überflüssiger Restlebenszeit. Märkte, Messen, Führungen, Lehrgänge, Konzerte, Lesungen, Aufführungen, Partys, Kennenlernveranstaltungen. Signale der Verlorenheit und der Sinnentleerung. Menschen begegnen sich auf dem Bonbonherstellungslehrgang mit original Bonbonpresse von 1920. Das könnte etwas für mich sein. Ich könnte auch ein Foreigner-Konzert besuchen, leider ohne Lou Gramm, den Originalsänger.
Ich beschließe, spontan am frühen Abend auf eine Afterwork-Clubveranstaltung im »Dow Jones« mit dem verführerischen Titel »Dax Dance Club« zu gehen. Hier treffe ich garantiert auf Menschen, wie ich sie noch nie vorher getroffen habe. Fremde, faszinierende Menschen aus der Geschäftswelt in ihrem natürlichen Lebensumfeld. Das erscheint mir mehr als spannend. Ich treffe am frühen Nachmittag meine Vorbereitungen. Ich versuche so businessmäßig wie möglich zu wirken, wähle meinen dunkelblauen Anzug, ein schwarzes Hemd und eine schwarze Krawatte aus. Ich gele mir die Haare und lege sie in einer wild geordneten Drapierung auf dem Kopf zurecht. Ein Schuss zu viel vom schlechten Parfüm kann nicht schaden. Eine Sonnenbrille, wenn auch ein Billigplagiat, rundet das flache Gemälde ab. Dann begebe ich mich in eine moderne Wartestellung am geöffneten Fenster, auf dass die Welt sich an meinen Tendenzen ergötzen möge.
Bereits kurz vor 18 Uhr tauche ich vorm »Dow Jones« auf. Nichts deutet auf den Beginn eines Events hin, ab und zu betreten einzelne Geschäftsleute oder auch kleine Grüppchen den Laden. All diese Leute kommen direkt
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