Tag vor einem Jahr
auf dieses winzige Stück Vollkommenheit, und in meiner Kehle bildete sich ein Kloß. Ich fuhr ihr durch die Haare.
»Ich bin nicht traurig, Ella«, sagte ich und richtete mich auf, sodass sich mein Gesicht im Schatten befand. »Nur ein bisschen müde, das ist alles. Wir sehen uns bei der Hochzeit, ja?«
Sie nickte, warf mir eine Kusshand zu und sprang in die Küche zurück. Ich stand da und beobachtete sie. Dabei hätte ich fast Jack übersehen, der aus der unteren Toilette kam.
»Gehen Sie, Grace?« Er reichte mir die Hand. Ich schüttelte sie erneut, nickte. Nachdem er meine Hand losgelassen hatte, griff er mit warmen, trockenen Fingern hinter mein Ohr und hielt mir danach seine geöffnete Hand hin. Im gedämpften Licht der Diele glänzte zwischen seinen Fingern eine Euromünze auf. Ich lachte und fühlte mich dabei ein wenig albern.
»Man ist nie zu alt für einen Hauch von Zauberei.« Er sagte es, als könnte er meine Gedanken lesen, und überreichte mir die Münze. »Als Glücksbringer.« Er lächelte mir zu. Ich nahm die Münze, sie fühlte sich in meinen Händen warm an.
»Im Übrigen, herzlichen Glückwunsch.« Als ich ihn verdutzt ansah, fügte er hinzu: »Zur neuen Stelle, meine ich.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ihre Mutter hat es mir natürlich erzählt. Wer sonst? Sie ist wirklich stolz auf Sie.«
»Oh«, war alles, was ich herausbrachte. Ich verabschiedete mich und ging in die Nacht hinaus, die Faust fest um die Münze geschlossen.
29
Ich nahm die Heimfahrt kaum wahr, was ich beunruhigend fand, bedachte man, dass ich diejenige war, die das Auto lenkte. Lange Zeit saß ich vor der Wohnung im Auto. Das einzige Geräusch war das Fauchen der Zigaretten, die aufklimmten, wenn ich inhalierte. Ich wollte nicht hineingehen, für den Fall, dass Shane schon da war, obwohl ihm das angesichts der Tatsache, dass noch nicht Sperrstunde war, nicht ähnlich gesehen hätte. Ein Gefühl nagte an mir wie eine Art Juckreiz, dem ich nichts entgegensetzen konnte. Ich zündete mir eine weitere Zigarette an, was ich gleichzeitig hasste und liebte. Vermutlich, weil ich dadurch etwas zu tun hatte. Ohne die Zigarette war ich einfach nur eine Verrückte, die im Dunkeln saß und aus dem Fenster eines Autos starrte.
Dieses Gefühl war neu. Es war nicht Trauer oder Traurigkeit, nicht Schuld oder Enttäuschung. Es war anders. Mir wurde davon heiß, und es juckte mich. Es ließ mich in meinem Sitz zusammensacken. Es sorgte dafür, dass ich das Fenster nicht einmal einen Spaltbreit öffnen, sondern einfach nur dasitzen und in dem betäubenden Zigarettenmief ersticken wollte. Und dann kam es über mich. Ich hatte es restlos, gänzlich und absolut satt.
Das war es. So einfach. Ich war wütend. Müde. Ich war es leid, so über aber alle Maßen leid, mich elend zu fühlen. Ich hatte die Schnauze voll davon. Ich hatte mich so lange so gefühlt, und jetzt wollte ich mal etwas Neues fühlen. Einen
Szenenwechsel in der Landschaft meines Kopfes. Nun, wo ich das erkannt hatte, fühlte ich mich besser. Ich drückte eine nur halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und genoss den Tanz leuchtend roter Funken, die aufstiegen und herabfielen, genoss ihr helles Licht.
Die Wohnung war leer. Es machte mich weder traurig, noch fühlte ich mich einsam oder enttäuscht oder schuldig oder voller Trauer, denn ich hatte es satt, mich so zu fühlen. Stattdessen war ich froh und heckte in Gedanken einen Plan aus. Dieser Plan beinhaltete Schokolade, Tee, die Couch, Scooby-Doo-Hausschuhe und ein Buch. Eines meiner mit Abstand liebsten Bücher. Ich hatte es seit etwa einem Jahr nicht mehr gelesen, insgesamt aber ungefähr zwölfmal. So bin ich nun mal mit Büchern. Wenn ich eines finde, das ich mag, mag ich es wirklich. Ich mag es bis zum Lebensende. Dieses spezielle Buch war zerfleddert, der Rücken brach in Tausend verschiedene Teile auseinander, die Seiten waren vergilbt und abgegriffen, weil ich es immer und immer wieder in der Badewanne gelesen hatte. Manche Bücher sind eben so. Sie sprechen zu einem, selbst wenn ihre Buchdeckel zugeklappt sind. Wie auch immer, obwohl ich es seit über einem Jahr nicht mehr gelesen hatte, wusste ich genau, wo ich es finden würde: auf dem Boden meines Kleiderschranks, in der Ecke hinten rechts. Da lag es, eingezwängt zwischen einem Tamburin (einer dieser skurrilen Einkäufe, die zu gegebener Zeit Sinn ergeben) und einer Perücke im Afrolook, die ich mir vor Hunderten von Jahren für eine Siebzigerjahrparty
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