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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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hatte. Ich drehte mich um, um sie anzusehen, und noch nie hatte ich solche Angst. Alles, was ich befürchtet hatte, entsprach der Wahrheit. Sie gab mir die Schuld wegen Patrick. Es war eine Sache, mir selbst die Schuld dafür zu geben. Bisher hatte ich nur angenommen, dass sie mir die Schuld gab. Jetzt wusste ich, dass sie es tat.
    »Hallo, Mam. Ich wollte eben gehen und die Partytüten für die Abendgäste bereiten.« Plötzlich war mir eingefallen, um was sie mich vorhin gebeten hatte.
    »Dafür ist es ein bisschen spät, findest du nicht?« Ihr unfreundlicher Ton klang nicht so selbstsicher wie sonst. Vermutete sie, dass ich ihre Unterhaltung mit Jack mitangehört hatte?
    »Nein«, sagte ich und schob den zerrissenen Teil meines Kleides hinter meinen Rücken. »Sie kommen jetzt erst an, und der Kuchen ist noch nicht angeschnitten. Darauf habe ich gewartet.« Mir war eingefallen, dass Clare sich gewünscht hatte, dass die Partytüten für die Gäste ein Stück vom Hochzeitskuchen, Taxigutscheine und eine Wegwerfkamera enthalten sollten. Bei diesem Projekt war ich federführend. Mir war schwindlig vor Erleichterung, dass ich mich daran erinnert hatte.
    »Das ist wunderbar, Grace. Du scheinst alles im Griff zu haben«, sagte Jack mit einem Lächeln. Mam ließ mich nicht so leicht davonkommen.

    »Was machst du hier? Dein Kleid ist zerrissen. Wo ist Shane?«
    Ich war erschöpft. Wenn man ohnehin eine Enttäuschung für die eigene Mutter war, dann konnte man genauso gut einfach eine sein und aufhören, dem auszuweichen, wie ich es seit einem Jahr tat.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete ich, und dann etwas lauter: »Ich denke, wir werden uns trennen.« Ich war darüber ebenso entsetzt, wie Mam es zu sein schien. Jack sagte etwas – ich verstand nicht, was – und ließ uns beide allein. Mam erholte sich schneller als ich.
    »Typisch Grace. Ausgerechnet heute.«
    »Es geschieht nicht heute. Ich wollte nicht, dass es überhaupt geschieht.«
    »Nein, natürlich nicht. Du willst nie, dass etwas geschieht.« Ihre Stimme war bitter wie Galle.
    »Was soll das heißen?« Obwohl ich es wusste – natürlich wusste ich es -, aber ich wollte, dass sie es laut aussprach.
    »Es ist egal, Grace.« Sie schaute sich um und bemerkte, dass Jack weg war.
    »Nein, sag es mir.« Ich wollte, dass sie es aussprach. Endlich. Damit das Thema auf den Tisch kam. Zwischen uns. Wo es immer gestanden hatte. Leise. Abwartend.
    »Also schön.« Ich konnte sehen, wie sie im Geiste ihre Tarnung abwarf.
    »Warum musstest du dir den heutigen Tag aussuchen, um es zu tun? Es ist Clares Tag, er hat nichts mit dir zu tun. Du musst immer im Mittelpunkt stehen.« Ihre Wangen verfärbten sich, bis ihr ganzes Gesicht rot war.
    Ich ging auf sie zu und antwortete mit leiser Stimme.
    »Ich weiß, dass es Clares Tag ist. Ich weiß es, ungeachtet dessen, dass du mich unzählige Male daran erinnert hast.

    Niemand weiß etwas von Shane und mir außer dir, und ich habe es dir jetzt nur gesagt, weil du mich nach ihm gefragt hast. Und weil du meine Mutter bist. Ich dachte, du wolltest es vielleicht wissen.« Ich atmete schwer, so als wäre ich lange gelaufen.
    Sie seufzte und drehte sich um, um zu gehen. Ich legte blitzschnell meine Hand auf ihre knochige Schulter.
    »Nein, warte. Was meinst du damit, dass ich immer im Mittelpunkt stehen muss?«
    Mam sah mich an, als wäre ich eine Fremde.
    »Ich werde dieses Gespräch nicht heute mit dir führen. Nicht heute.« Ihr Ton war kurz angebunden.
    »Wann willst du es dann führen? Wir haben dieses Gespräch nicht geführt, seit es geschehen ist.« Mein Atem war jetzt flach und kam stoßweise. Sie hatte sich gerade wegdrehen wollen und hielt nun mitten in der Bewegung inne. Wir standen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt da und starrten einander an.
    »Seit was geschehen ist?« Es war eine Herausforderung, und ich nahm sie an.
    »Seit Patrick gestorben ist. Seit er ertrunken ist.« Da. Ich hatte es gesagt. Laut ausgesprochen.
    Mam zuckte zusammen, als hätte ich sie geschlagen. »Wage es nicht …«, begann sie.
    »Hör auf, das zu sagen, hör auf, mir zu sagen, dass ich nicht von ihm sprechen darf. Auch ich habe ihn geliebt. Er war mein Bruder.« Ich hatte entsetzliche Angst vor dem, was sie vielleicht sagen würde, deshalb sagte ich es zuerst:
    »Ich weiß, dass es meine Schuld war. Damit lebe ich. Wenn wir nichts getrunken hätten, wenn nicht Flut gewesen wäre, wenn ich nicht schwimmen gegangen wäre, wenn wir nicht

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