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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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nach Spanien gefahren wären. Ich gehe es immer und immer wieder durch, es bleibt immer dasselbe. Er ist
immer noch tot, und ich kann es nicht ändern.« Jetzt weinte ich, mein Gesicht war gerötet.
    Meine Mutter stand regungslos da. Als sie sprach, bewegte sie kaum ihre Lippen.
    »Ich habe ihn auf die Welt gebracht. Ich habe ihn neun Monate lang unter meinem Herzen getragen. Ich habe ihm einen Namen gegeben. Ihn großgezogen. Und er ist fort. Und ich bin noch immer da. Und das ist nicht richtig. So sollte es nicht sein. Es hat nichts mit dir zu tun.« Diesen letzten Satz spuckte sie aus, und ihr Blick traf mich wie ein Messerstich.
    »Ja, aber ich bin noch hier. Du hast auch mich unter deinem Herzen getragen. Ich bin noch hier.«
    Sie drehte sich um und ging langsam von mir weg. Wie sie durch die Bäume zurückging, ihr Rücken kerzengerade, das Abendlicht glitzernd auf dem silbrigen Grau ihres Kleides, wirkte sie so fremd.
    »Ich bin noch hier!« Ich schrie es heraus, meine Stimme hallte vom Wald zurück, der jetzt dunkler wirkte. Sie schaute nicht zurück. Sie schaute nie zurück, wenn sie von mir wegging.
    Vom Waldrand führte ein kleiner Trampelpfad über die mit Grashalmen bedeckten Dünen, zum Strand. Ich rannte ihn entlang. Das Adrenalin, das durch meinen Körper floss, hatte mich den Schmerz in meinen Füßen vergessen lassen. Kämpf oder flieh. Sagte man nicht so? Und jedes Mal wählte ich die Flucht. Mittlerweile fühlte es sich an, als wäre ich schon sehr, sehr lange davongelaufen. Ich blieb erst stehen, als ich weit genug vom Hotel weg war. Ich sank in die Vertiefung einer Sanddüne und ließ meinen Tränen freien Lauf. Sie überraschten mich, strömten mir über das Gesicht und sickerten durch meine Finger. Ich konnte sie in meinem Mund schmecken, salzig und
warm. Sie liefen mein Gesicht hinunter und blieben in kleinen Tröpfchen an meinem Kinn hängen. Ich gab keinen Laut von mir.
     
    Ich weiß nicht, wie lange ich so zubrachte, bevor er kam. Leise. Unauffällig. Es überraschte mich nicht einmal, dass er plötzlich da war. Er kauerte sich vor mich hin und hielt in einer seiner schönen Hände ein großes Papiertaschentuch. Wie eine weiße Flagge. Ich hielt das Taschentuch an mein Gesicht. Innerhalb von Sekunden war es durchweicht. Er gab mir ein zweites. Mit gesenktem Kopf schnäuzte ich mir kräftig die Nase.
    »Ich habe dich laufen sehen«, sagte Bernard. Seine Stimme war weich, eine Liebkosung.
    Mir war klar, dass ich wieder zu weinen anfangen würde, wenn ich etwas sagte. Ich schüttelte den Kopf. Er wartete ab.
    »Ich … ich habe mich mit meiner Mutter gestritten. Wir haben über Patrick gesprochen, zum ersten Mal seit … zum ersten Mal seit einer Ewigkeit.«
    »Du bist nicht schuld daran, Grace. Niemand ist schuld daran. Es war ein Unfall. Ein tragisches Unglück.« Er schüttelte den Kopf, und ich sah zu ihm hoch.
    »Ich …« Ich versuchte etwas zu sagen, doch ich war vom vielen Weinen völlig erschöpft und brachte nichts heraus.
    Ich versuchte es erneut.
    »Woher weißt du – was passiert ist, meine ich?«
    »Caroline. Ich habe sie gefragt, warum du so traurig bist, und sie hat es mir erzählt.«
    »Du findest, ich bin traurig?«
    »Ja, das finde ich. Du bist es, oder nicht?« Er sprach ganz sachlich.

    »Nun, ja, aber ich dachte, ich würde klarkommen, damit fertig werden, weitermachen.«
    »Schau, Grace, ich verstehe das. Ich weiß, wie du dich fühlst. Mein Bruder ist gestorben. Das habe ich dir erzählt, aber ich habe dir nicht erzählt, dass er sich umgebracht hat. Ich habe ihn gefunden. Eigentlich sollte ich an diesem Abend mit ihm ausgehen, aber Cliona wollte mit mir über ihn sprechen. Sie machte sich Sorgen um ihn. Ich auch. Also ließ ich ihn allein. Das hätte ich nicht tun dürfen. Und er hat sich umgebracht.« Bernards Stimme versagte, er hörte auf zu sprechen.
    »Gibst du dir die Schuld an Edwards Tod?«
    Bernard sah mich an. Er rang mit sich.
    »Ich habe es getan. Lange Zeit. Aber dann habe ich damit aufgehört. Er war tot, und ich war am Leben. Ich musste mich damit arrangieren. Weitermachen, wie meine Mutter sagen würde.«
    »Das habe ich ständig gedacht«, sagte ich. »Ich lebe, und Patrick ist tot, und das ist einfach nicht in Ordnung. Es fühlt sich nicht an, als wäre es in Ordnung. Es scheint, als würde sich nie wieder etwas anfühlen, als wäre es in Ordnung.« Ich weinte wieder. Es war befremdlich, über die Schuld zu sprechen, die mich zu ersticken drohte,

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