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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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auf mehr als sieben und weniger als zwanzig.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und strich sich mit den Fingerspitzen über das Kinn. Caroline ignorierte ihn und zog ihren Stuhl näher zu Jennifer und mir.
    »Ich wäre schön blöd, wenn ich ihm erzählen würde, dass ich nur mit fünf Männern geschlafen habe«, flüsterte sie und trank ihr Proseccoglas bis zum letzten Tropfen aus. Jennifer lachte geziert.
    »Mein Gott, mit fünf Männern hatte ich schon geschlafen, als ich zwanzig war. Was hast du denn in deiner Freizeit bloß gemacht?«
    Caroline lachte freudlos und beugte sich zu mir.
    »Ich habe Mittwochabend ein Blind Date«, zischte sie.
    »Abends?« Ich war entsetzt.
    »Grace, es kotzt mich so an, immer nachmittags irgendwelche Idioten zu treffen. Das ist unnatürlich. Es funktioniert nie. Ich möchte einfach nur jemanden kennenlernen, jemanden, der etwas Besonderes ist, jemanden, den ich lieben kann und der mich lieben wird. Keine Komplikationen.« Ich war überrascht. Dieses Eingeständnis sah Caroline, der wahrscheinlich unabhängigsten Frau, die ich jemals kennengelernt hatte, nicht ähnlich.
    »Schau dich an«, fuhr sie fort. »Du hast Shane, und
obwohl er ein Mistkerl ist, liebst du ihn. Ich glaube nicht, dass ich jemals jemanden wirklich geliebt habe.« Sie sah mich an und versuchte die Situation aufzulockern, indem sie zwei Reihen vollkommen gerader weißer Zähne zu einem gequälten Lächeln entblößte.
    »Er ist kein Mistkerl. Ich wünschte, du würdest aufhören, das zu sagen.«
    »Ich darf das, er ist mein Bruder.«
    »Er ist mein Freund.«
    Caroline gab keine Antwort, und ich war bestrebt, das Thema zu wechseln.
    »Was hat es mit deinem Blind Date auf sich?«, wollte ich wissen.
    »Na ja.« Sie tat kokett. »Er macht in Computer und ist Richards Cousin. Von irgendwoher, nicht Cork oder Dublin. Ich weiß seinen Namen nicht und auch sonst nichts über ihn, aber ich war einverstanden, ihn am Mittwochabend um acht dort zu treffen, wo erfolgreiche Rendezvous nun mal beginnen: unter Cleary’s clock. Er wird eine Ausgabe vom Fänger im Roggen in der Hand halten, damit ich ihn erkenne. Kitschig, nicht wahr?«
    »Klingt romantisch«, erwiderte ich. »Er wäre verrückt, wenn er nicht sofort verrückt nach dir wäre«, fuhr ich fort und berührte mit meiner Hand kurz ihre Schulter.
    »Erzähl mir nicht so’nen Blödsinn, Grace«, blitzte sie mich an und schüttelte meine Hand mit einem Achselzucken ab. »Wir wissen beide, dass ich bestenfalls ein hyperempfindliches Miststück bin.«
    »Das stimmt«, gestand ich ihr zu, »aber du siehst so verdammt toll aus, dass sie es nicht merken, bis es zu spät ist.«
    Sie lachte, und ich lachte ebenfalls, froh darüber, dass die Unterhaltung sich wieder auf vertrautem Boden bewegte.

14
    Paris, September 2003
    Liebe Grace,
    verbringe eine etwas melancholische Zeit hier. Habe Gräber besucht. Oscar Wilde, Jim Morrison, Chopin. Alle Großen werden in Paris zu Grabe getragen. Offensichtlich hat man nicht gelebt, bis man gestorben und in Paris begraben worden ist. Die Gräber sind überwachsen und manche etwas eingesunken. Man sollte meinen, die Anhänger, die hierherpilgern, würden sich ein bisschen darum kümmern, aber das tun sie nicht. Sie bleiben einen Augenblick stehen, machen ein Foto und gehen weiter. Man hat den Eindruck, als wollten sie bleiben, wüssten aber nicht, warum. Ich verweilte eine Zeit lang vor Jimmys Grab (bei dir läuft er unter Mr Morrison). Letzten Samstag ging ich wirklich früh hin, und der Ort lag ganz verlassen da, sieht man einmal von einer Art Wärter ab, uralt, mit einem verkrüppelten Bein und einer laufenden Nase. Er behielt mich im Auge, sagte aber nichts. Hätte er etwas gesagt, dann auf jeden Fall etwas in Richtung »die Jugend heutzutage«, du weißt, was ich meine? Ich brachte eine Flasche Wein mit und schüttete die Hälfte davon auf das Grab. Die andere Hälfte trank ich, sonst wäre es eine echte Verschwendung gewesen, schließlich weiß doch jeder, dass Tote keinen
Wein trinken. Ich muss ziemlich angedüdelt gewesen sein (eine halbe Flasche Wein um sieben Uhr morgens auf nüchternen Magen – es war viel zu früh zum Frühstücken), denn nachdem ich geschaut hatte, ob die Luft rein war, sang ich. Laut heraus, meine ich. »Break on Through the Other Side«. Vermutlich hat Jim das alles schon öfter gehört, aber für mich war es eben etwas Besonderes (ja, okay, wahrscheinlich lag es am Wein …).
    Außerdem trinke ich

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