Tag vor einem Jahr
massenweise starken, schwarzen Kaffee aus klitzekleinen Tassen. In Frankreich gehört es sich nicht, nach dem Frühstück noch Café au lait zu trinken. Man sagte mir, dass das nur Kinder und Trottel tun. So wie sich meine Umgangsformen in Sachen Kaffee verbessern, so verbessert sich auch mein Französisch. Als wir ankamen, konnte ich nur »bonjour« und »voulez vous coucher avec moi, ce soir«. Inzwischen kann ich nach bestimmten Dingen fragen (dem Bahnhof, den Toiletten, dem Friedhof) und Wein bestellen (dazu zeige ich meistens auf der Getränkekarte mit dem Finger auf den Wein, den ich haben möchte).
Toiletten
Du wirst es nicht glauben, aber manche der öffentlichen Toiletten hier bestehen noch immer aus solchen Systemen mit Löchern im Boden und Handgriffen an beiden Seiten, um sich festzuhalten. Aber diese S-&-S-Methode (stehen und scheißen) ist absolut nicht nach meinem Geschmack. Besonders morgens, wenn ich mich, wie du dich erinnerst, gerne mal für ein halbes Stündchen mit Zeitung, Kippe, einer Tasse Tee und dem Radio zum Nachdenken aufs Klo verziehe.
Solche Zeremonien finden hier nicht statt. Immerhin, sie behaupten, dass es hygienischer sei, darüber kann ich jetzt immer nachdenken, wenn ich in der Hocke kauere und mich an den Handgriffen festklammere.
Leute kennenlernen
Du lernst eine Menge Leute kennen, wenn du allein unterwegs bist (Sinead hat sich übrigens noch immer in Barcelona im Bett verbarrikadiert). Bisher habe ich folgende Personen kennengelernt:
Rory, den irischen Exilanten. Nebenbei bemerkt, er spricht seinen Namen in etwa »Ruairi« aus. Die Tatsache, dass er von sich als Exilant spricht, ist in der Tat alles, was du über Rory wissen musst (ich benutze die englische Version seines Namens, da sie leichter auszusprechen und kürzer zu schreiben ist und weil ich weiß, dass ihm das stinken würde). Er arbeitet in der Bar, in die ich abends gerne gehe, obwohl er ein echter Künstler ist, der darauf wartet, dass seine Zeit kommt und er entdeckt wird, bla, bla, bla.
Sonia. Aus England. Arbeitet ebenfalls in der Bar. Verbringe ich viel Zeit in dieser Bar? Na ja, seit ich Sonia getroffen habe, tue ich das. Sie ist wunderschön und winzig klein und außerdem sehr klug (sie studiert europäische Literatur an der Pariser Universität). Entschuldige, Gracie, ich weiß, du hasst Leute, die klein sind, aber sie ist wahrscheinlich die kleinste erwachsene Frau, die ich jemals kennengelernt habe. Selbst ihre Fingernägel sind winzig, wie die einer Puppe. Und auch sehr rosa. Ich sollte sagen, dass sie jede Menge Milch
trinkt und jede Menge Käse isst. Wir haben viel gemeinsam und kommen gut miteinander aus, obwohl sie mich »Rotschopf« nennt (sie spricht das »r« französisch aus), was mir nicht gerade als das schmeichelhafteste Kosewort für eine Person der rothaarigen Gattung erscheint. Ich weiß genau, dass du an dieser Stelle mit dem Kopf nickst.
Zudem habe ich die Bekanntschaft einer Frau namens Mme. Dupont gemacht. Sie ist etwa siebzig Jahre alt, sitzt auf einer Bank in einem Park, in den ich gerne am Nachmittag gehe, und hat einen Hund in der Größe einer gut genährten Ratte, dessen Bellen in etwa wie das Piepsen einer Maus klingt. Dieser – er hört aufgrund seines ausgeprägten Interesses an Hundeladys auf den Namen Heinrich VIII. – trägt wollene Mäntelchen, die Mme. Dupont für ihn strickt. Er hat sieben davon, eines für jeden Tag der Woche, alle in verschiedenen Farben. Das weiße trägt er zur Sonntagsmesse. Mme. Dupont und ich sprechen nicht wirklich miteinander. Meistens spielen wir im Schatten Schach. Die Schachbretter sind in manche der Picknicktische eingelassen, und Mme. Dupont bringt einen Satz Schachfiguren mit, die, wie sie sagt, ihr Mann vor mehr als fünfzig Jahren als Hochzeitsgeschenk für sie von Hand geschnitzt hat. Wir essen Stinkkäse (den ich mitbringe) und trinken Wein aus Pappbechern (von meiner Freundin organisiert). Manchmal sitzen wir einfach nur da und beobachten die Leute. Meistens sind es alte Leute, die alle Zeit der Welt zu haben scheinen. Ab und zu zeigt Mme. Dupont auf einen von ihnen und setzt zu einem Monolog an, den ich
nicht verstehe. Ich höre zu und nicke, die Sprache hier ist wie Poesie. Es hat etwas, Rotwein in der Nachmittagshitze eines Pariser Parks zu trinken. Ich bin ganz erfüllt von diesem Genuss.
Und was sagt dir mein weitschweifiges Gerede? Nun, es hat ganz den Anschein, dass ich über das Geheimnis des Lebens
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