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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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Win-win-Situation.

    Bis dahin hegte der Chef noch immer die vage Hoffnung, ihre Zuneigung zu gewinnen, und dachte, dass er sie, wenn er sie beim Abendessen nur mit genug billigem Wein abfüllte, danach abschleppen könnte. Bis heute hat sich dieser Traum nicht erfüllt.
    Dieses Jahr ging der Chef mit Damien auf die Konferenz, einem frisch eingestellten, schon etwas älteren Schadenssachbearbeiter und krankhaften Arschkriecher. Zu seinem eigenen Unglück wusste Damien nicht, dass der Chef schamloses Arschkriechen verabscheute. Zweifelsohne würde er sich während der Konferenz dieser Tatsache bewusst werden.
    Ich ging schlafen und träumte Erinnerungen, echte Erinnerungen, sepiafarben und an den Ecken eingerollt. Mein Gehirn spulte zurück und spielte kleine Szenen aus Shane und Grace. Der Film. Manche davon waren sehenswert, und ich muss im Schlaf gelächelt haben, während ich diese Wiederholungen anschaute. Natürlich war ich in meinem schlafinduzierten Zustand in der Lage, die Sonne scheinen zu lassen, den Regen abzustellen und meine Taille um ein paar Zentimeter schlanker zu machen.
    Hier sind wir, beim Strandspaziergang in West Cork. Die Sonne geht unter und ergießt sich wie Honig in ein Meer, das so glatt und eben ist wie eine Glasplatte. Der Himmel darüber ist durchzogen von rosa- und orangefarbenen Streifen. Die Absätze meiner Sandalen sinken mit saugendem Geräusch in den nassen Sand. Eine Wildblume windet sich durch mein Haar, und eine sanfte Brise berührt meine Haut wie warme Hände, bläst den Saum meines Rocks hoch und enthüllt lange, schlanke, sonnengebräunte Beine – das ist ein Traum, man erinnere sich. Und da ist Shane. In voller Größe. Das lange Haar, das lässig über
seine Augen fällt. Seine ungezwungene Art. Sein Geruch – er riecht nach Meeresluft und »Eau de Echter Kerl«. Es ist der Morgen nach dem Vorfall in Ryan’s Bar. Shane macht sich Sorgen um mich, gibt sich als Beschützer. Er schlägt einen Spaziergang vor. Fast hätte ich laut aufgelacht, wäre mir nicht gerade noch aufgefallen, dass er es ernst meint. Er ist ein Mann, der spazieren geht. Ich bin eine Frau, die in unpassendem Schuhwerk neben ihm gehen will, egal wie viele Kilometer weit. Ich habe mich verliebt. Ich bin ganz benommen davon. Die Welt ist aus den Angeln gehoben, und ich sitze auf der Kante, turne herum, um oben zu bleiben. Shane ist zuvorkommend, wendet mir sein Gesicht zu, wenn ich spreche. Von dem, was ich sage, scheint er fasziniert zu sein, wenn ich witzig zu sein versuche, lacht er laut auf. Selbst im Traum frage ich mich, was er an mir findet. Gleich kommt unser erster Kuss. Da ist er. Ich plappere vor mich hin, mein Gehirn scheint keine Kontrolle über meinen Mund zu besitzen, der sich in ständiger Bewegung befindet und jedes peinliche Schweigen fernhält. Schwiegen wir, könnte er vorschlagen, diesen Ort zu verlassen, könnte er mir von einer möglichen Freundin erzählen, könnte er …
    »Grace.« Er bleibt stehen, spricht meinen Namen mit weicher Stimme aus. Er legt mir seinen Finger auf die Lippen, bringt mich zum Schweigen.
    »Hörst du jemals auf zu reden?« Er schmunzelt, sein Gesicht ist nah an meinem. Sein Atem berührt warm meinen Mund.
    Selbst jetzt habe ich das Gefühl, dass eine Antwort von mir erwartet wird. Ich öffne den Mund, um etwas zu erwidern. Was hatte ich sagen wollen? Sein Mund liegt auf meinem, und seine Finger vergraben sich in meinem Haar. Ich fühle mich zerbrechlich, durch und durch mädchenhaft. Seine Lippen sind weich. Ich glaube nicht, dass ich
während der nächsten dreißig Sekunden atme. Seine Haare kitzeln mein Gesicht, aber es ist nicht lustig. Es ist herrlich. Als er sich zurückzieht, merke ich, dass ich atemlos bin, als wäre ich den ganzen Strand abgelaufen.
    »Das wollte ich machen, seit ich dich gestern im Zug gesehen habe.« Das sagte er, ich schwöre es bei Gott. Daran lässt sich nicht rütteln. Selbst unter Folter lässt sich daran nicht rütteln.
    Ich bewegte mich, begab ich in meine Lieblingshaltung: diagonal über das Bett ausgestreckt, mit den Füßen am rechten unteren Ende, dem Kopf am linken oberen. Ich spulte vor, und der Film übersprang die ersten, wunderschönen Monate voll spürbarer Zärtlichkeit, voll besinnungslosem Begehren. Ich wollte an den Kern unserer Geschichte kommen, wollte hin zu dieser vibrierenden Spannung, zum Cliffhanger. Unserem Ersten Streit. Natürlich war ich schuld daran. Ich hätte nicht gerade auf Diät sein sollen.

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