Tag vor einem Jahr
Wenn ich auf Diät bin, bin ich unzumutbar.
Ich hungre, habe seit dem Mittagessen nichts mehr zu mir genommen. Und »Mittagessen« ist übertrieben, genau genommen war es eine Portion Eiersalat, die so klein war, dass man sie nur unter einem hochauflösenden Mikroskop wahrnehmen konnte (ohne Mayo! Was soll das?), dazu ein Reiskeks. Reiskekse sind toll, wenn man den Geschmack alter Pappe mag. Die Leere in meinem Magen fühlt sich entsetzlich an. Wir befinden uns mit Shanes Kollegenmeute in einem dieser angesagten Pubs in der Innenstadt. Dort, wo die Reichen und Schönen verkehren. Shane hat sich wie üblich an der Theke niedergelassen, wo er von seiner Fangemeinde umringt ist. Vor zehn Minuten ist er gegangen und hat mir etwas zu trinken geholt (Wodka und kalorienarmes Tonic). Ich sitze zwischen vier seiner engsten Freunde aus dem Büro an einem kleinen Tisch in der
Falle, alle sind sie weiblichen Geschlechts, alle versuchen sie zu ergründen, was da schiefgelaufen ist. In meinem Traum kann ich es von ihrem Standpunkt aus betrachten. Sie beten am Altar des Fitnessstudios, sie haben seit den frühen Achtzigern keine Schokolade mehr gegessen, sie sind gebräunt, getönt, gestrafft. Abwechselnd schießen ihre Blicke zur Theke und weiden sich an dem Mysterium, das mein Freund ist. Nach einem geradezu verschlingenden Blick von Martha – Shanes Assistentin – schaue ich schnell zu ihm hin, um festzustellen, ob er noch seine Kleider anhat.
»Also, Grace – dein Name war doch Grace, oder?« Martha geht zum Angriff über. Ich nicke ihr zu, mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Ich bin vor lauter Verlangen nervös. Alles sieht nach Essen aus. Marthas weiche engelhafte Locken bilden ein Bett aus Tagliatelle, ihre braunen Augen sind Schokolinsen, weich und süß, ihre Gesichtshaut eine Schale mit Pfirsichen und Sahne, die ich leer essen und auslecken möchte.
»Ja. Ja, Grace ist richtig.« Aus Angst davor zu sabbern, lächle ich mit geschlossenem Mund.
»Und was machst du?«
»Bin bei einer Versicherung.« Meine Antwort ist dürftig und entsetzlich banal. Um den Tisch herum nicken alle mit den Köpfen. Ich bin viel zu hungrig, um die Welt der Versicherungen attraktiver erscheinen zu lassen. In Sachen Smalltalk ist das ein Showstopper (wie mein Chef sagen würde). Pauline, die nett zu sein scheint (sie lässt ihren dunklen Haaransatz gut drei Zentimeter lang wachsen, ohne zu intervenieren), kämpft sich durch eine Geschichte, in der ihre Mutter vorkommt, eine Tasche mit wertvollen Juwelen – ordnungsgemäß geraubt – ein Versicherungsformular – gewissenhaft ausgefüllt – und die Weigerung einer
Versicherungsgesellschaft zu zahlen, weil sich der Bewegungsmelder im Garten nicht eingeschaltet hatte.
»Die Diebe haben die verdammte Glühbirne in dem Scheißmelder zerschlagen.« Pauline ist noch immer empört. Über Versicherungsgesellschaften gibt es nie gute Geschichten.
»Wo hat Shane dich aufgetan?« Chantelle war eine arrogante Blondine, die aussah, als wäre sie nicht überrascht, wenn Shane mich nach einem Gang durch die Kläranlage von der Sohle seines Schuhs abgekratzt hätte.
»Oh, ich habe auf seine Anzeige im ›Treffpunkt‹ von The Star geantwortet.« Um den Tisch herum wird nach Luft geschnappt. Shane liest The Star? Ich bin ach-so-locker und schnipse eine Fluse von meinem Jackenärmel, die es gar nicht gibt.
»Was mich am meisten an seiner Anzeige beeindruckt hat, war, dass er nach einer richtigen Frau suchte. Heutzutage gibt es so viele derart künstliche Tussen, findet ihr nicht auch?« Ich hebe meine Augenbraue in ihre Richtung und lächle. In diesem Augenblick hätte es unangenehm für mich werden können. Diese Mädchen hätten mich mit ihren Wangenknochen aufspießen können. Shane wählt diesen Moment, um auf das Schlachtfeld zurückzukehren. Alle Truppen – ich eingeschlossen – ändern ihren Gesichtsausdruck. Unser kollektives kieferbrechendes Lächeln beunruhigt ihn kurz. Er verteilt die Getränke. Ich spreize meinen kleinen Finger ab, wobei ich den anderen in nichts nachstehe, und hangle mich kämpfend weiter durch den Abend. Endlich werde ich auf die Straße entlassen.
Ich kann es nicht erwarten, Shane für mich allein zu haben, aber ich denke auch über einen Döner bei Iskander nach. Ich denke seit zwei Stunden darüber nach.
»Du hast doch wohl nicht vor, um diese Zeit noch einen
Döner zu essen?«, sagt Chantelle. Entschuldigung, wann soll man denn sonst einen Döner
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