Tag vor einem Jahr
sein, als er behauptete, Männer und Frauen könnten platonische Freundschaften führen. Ich gehöre eher der Gedankenschule von Harry und Sally an. Da lautete die Theorie, dass Männer und Frauen keine Freunde sein können, da ausnahmslos der eine Teil den anderen auf einer gewissen sexuellen Ebene anziehend findet, insbesondere nach ein paar Gläsern Bier. Shane stimmte dem nicht zu. Da gab es Pauline, Charlotte, Brenda, Martha, Chantelle, Colette, Janet, Mya, und das waren nur seine Arbeitskolleginnen. Ich hatte sie bei allen möglichen Gelegenheiten getroffen und war zu dem Schluss gekommen, dass sie sich – würden sie auch nur ein bisschen ermutigt – wild auf ihn stürzen und dabei Frauen, Kinder und derzeitige Freundinnen in ihrer wogenden Gier niedertrampeln würden, um ihn flachzulegen. Er ging zum Mittagessen mit ihnen, ging einkaufen mit ihnen (Shane rühmte sich seiner Metrosexualität) und ging natürlich mit ihnen nach der Arbeit etwas trinken.
Einmal fragte ich ihn scheinbar beiläufig: »Gibt es denn im Büro keine netten Kerle, mit denen du ausgehen könntest?« Diese Bemerkung führte zum Schlimmsten aller Streits: Shane sprach trotz meiner verzweifelten SMS und E-Mails drei Tage lang kein einziges Wort mehr mit mir. Als er mir schließlich verzieh, befand ich mich in der unglücklichen Situation, nie wieder in der Lage zu sein, mich wegen seiner Legionen von Freund-innen, die sich alle nach einem Stück vom Kuchen verzehrten, zu beschweren.
»Was?«, bellte er mich an, obwohl ich eigentlich gar
nichts gesagt hatte. »Du wirst jetzt doch wohl nicht hochgehen, nur weil ich mich mit Pauline treffe?«
Ich schluckte schwer. »Nein, natürlich nicht.«
Das Abendessen bei Mam wurde nicht wieder erwähnt.
Bis ich so weit war, die Wohnung zu verlassen, um Clare in der Brautmodenboutique zu treffen, lag Shane schon wieder im Bett und schnarchte wie ein Walross. Ich setzte mich neben ihn und schrieb eine Nachricht, die ich auf das Kissen neben seinen Kopf legte:
Bin so schnell wie möglich zurück. Denk dran, dass Cats heute Nachmittag zurückkommt, also zieh dir bitte irgendwas an, wenn du aufstehst – du kannst dich wieder ausziehen, wenn ich nach Hause komme.
Liebe dich. Grace
XXX
»Wie geht es dem Liebesgott?«, begrüßte mich Clare, als ich im Brautgeschäft ankam (um 12 Uhr 27). Ich nahm die John-Wayne-Haltung ein und ging mit gegrätschten Schritten auf sie zu.
»Du bist absolut unmöglich.« Clare sagte es in unheimlich naturgetreuer Nachahmung unserer Mutter. »Keine Sorge, sie ist nicht hier«, fügte sie hinzu. »Sie macht heute einen Einkaufsbummel mit Jack Frost. Sie sagte, sie wollten ihm für die Hochzeit etwas zum Anziehen kaufen.«
»Wie bitte, sie kleidet ihn jetzt ein?« Ich konnte es nicht fassen. In einer Beziehung. Die Freundin von jemandem. Ich erinnerte mich daran, wie sie Dad immer kritisch unter die Lupe genommen hatte, bevor er das Haus verließ, ihm seine Krawatte geradezog, das Revers seines Jacketts
glattstrich, das Hemd in den Bund seiner Hose stopfte. Sie hätte ihm mit abgeleckten Fingern die Haare aus dem Gesicht gestrichen, hätte er es erlaubt. Oder hätte er Haare gehabt. Als er starb, war er so kahl wie ein Ei.
»Ich weiß, es ist merkwürdig, oder?« Clare schüttelte ihren Kopf. Sie wirkte trauriger, als es einer Braut in spe anstand.
»Der Liebesgott liegt zusammengerollt und fest schlafend im Bett und wartet auf meine Rückkehr.
»Ist mit euch beiden alles in Ordnung?« Clare stellte die Frage mit leiser Stimme.
»Aber ja doch!«, antwortete ich zu laut. »Wir schmieden Pläne. Ich erzähle dir später davon.«
»Kommt ihr heute Abend zum Essen zu Mam?«
»Ja, natürlich komme ich.« Ich klatschte laut in meine Hände. »Jetzt bring mich zu dem Fummel.«
Clare ging voraus zur Umkleidekabine, wo mich eine der BBs nervös begrüßte.
»Hallo, es ist schön, Sie wiederzusehen«, sagte ich ruhig und in meinem höflichsten Tonfall, als wäre letztes Mal nichts Besonderes geschehen. Über meine Zurschaustellung von Normalität schien sie etwas enttäuscht zu sein.
»Grace, du siehst großartig aus.« Das waren Clares Worte, nachdem der Reißverschluss des Kleides erfolgreich die ganze Strecke hochgezogen worden war, ohne dass etwas von dem feinen Gewebe riss.
»Sei nicht albern«, gab ich zurück und versetzte ihr einen spielerischen Stoß. Fast wäre sie aus der Umkleidekabine gefallen. Manchmal vergesse ich, wie viel Kraft ich habe.
»Es tut
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