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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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2004
    Liebe Grace,
    es stimmt, die Welt ist rund. Ich sitze auf dem Circular Quay im strahlenden Sonnenschein, so ist die südliche Halbkugel im Januar. Es ist kaum zu glauben, dass es dieselbe Sonne ist, die sich hinter unseren irischen Wolken versteckt.
    Weihnachten war lustig: gegrillte Hamburger (aus Truthahnfleisch) am Strand, kurze Hosen und Sonnencreme, kaltes Bier und Salsa-Dips. Als ich zu Hause anrief, konnte ich die Kälte fast durch das Telefon hindurch hören, und – um ehrlich zu sein – ich musste ein bisschen in mich hineinlachen. Ich glaube, es ist die einzige Zeit in meinem Leben, die ich als ganz und gar »voller Freude« beschreiben kann.
    Zu meiner Linken sehe ich die prachtvolle Harbour Bridge. Sie nennen sie hier den »Kleiderbügel«. Diese Aussis sind Meister der Untertreibung. Zu meiner Rechten das großartige Opernhaus. Das Haus eröffnete 1973 und war vorher ein Straßenbahndepot. In diesem Licht wirkt es, als würde es gleich in See stechen. Wir werden heute Abend dort Cinderella sehen. Habe ich »wir« gesagt? Habe ich nicht, oder doch? Okay, es ist ein Mädchen, eine Frau, wenn du so willst. In Australien beten sie rothaarige Männer
an. Ich liebe dieses Land. Sie heißt Mary. Ich weiß, ich weiß, ich reise auf die andere Seite der Welt und lerne eine Frau namens Mary kennen. Sie ist eine gebürtige, hier aufgewachsene und von der Sonne gegrillte Australierin, aber ihr Urgroßvater war Ire. Er hat anno 1850 eine Kuh gemolken, die nicht ihm gehörte oder so, und wurde für den Rest seines Lebens in dieses tropische Paradies verschifft. Hat das Beste draus gemacht, an jedem Tag der Woche, da wette ich drauf. Sie ist sehr groß (fast so groß wie du) und nennt mich Paaaaatrick, was ich liebe. Ich wünschte, ich könnte für einen Augenblick ein Mädchen sein, und dir erzählen, wie toll sie ist und wie sie in mir das Gefühl weckt, ein Held zu sein, der mit den höchsten Orden behängt aus dem Krieg zurückkehrt. Aber ich bin es nicht, also werde ich es nicht erzählen. Es genügt, wenn ich sage, dass ich sie mag. Und ich glaube, dass auch sie mich mag.
    Mit dem Buch geht es gut voran, zum Teil dank der Kulisse dieser unglaublichen Landschaft. Seit ich hier bin, habe ich eine Menge »Schriftsteller«-Sachen gemacht. Ich war bei einer Buchpräsentation an einem Ort in den Blue Mountains mit dem Namen Bridal Veil. Das ist ein großer Berg aus blassem grauen Gestein, der aus der Erde ragt und an dessen Seite ein Wasserfall hinabrauscht, weiß wie ein Brautschleier. Der Autor brauchte ein Mikrofon, damit man ihn über das Tosen des Wassers hinweg hören konnte. Unsere Gesichter waren nass vom Sprühnebel. Dort lernte ich dann auch Mary kennen (auch sie ist Schriftstellerin, aber anders als ich wird sie schon wirklich verlegt).
    Wie auch immer, ich muss. Ich treffe Mary zum
Abendessen in den Rocks, den Bergen über dem Hafen von Sydney, nur einen kurzen Spaziergang von hier. Ich hasse es, mich von diesem Fleck zu erheben, wo ich für die Welt unsichtbar bin; nur ein weiterer Zuschauer auf einer Bank, der einen von ihren Smoothies trinkt, gesüßt mit einer Babyflasche Malibu, die ich aus der Minibar in meinem Hotelzimmer befreit habe.
    Die Australier kürzen alle ihre Worte ab. Wusstest du das? Bettdecke heißt hier »doona« (warum brauchen sie eigentlich Bettdecken hier????). Nachmittag ist »arvo« und »G’day« steht für »guten Morgen« – und falls man sich nicht mehr sieht, auch für »schönen Nachmittag«, »schönen Abend« und »gute Nacht«. Für den Reisenden aus der nördlichen Hemisphäre ist es hier irgendwie einsam. Jedes Mal, wenn ich an euch alle denke, schlaft ihr. Es ist schwer, den Überblick zu behalten. Gestern aß ich Känguru. Ja, ich fühlte mich schlecht dabei (Wie bitte, Skippy?), aber mein Aussi-Boss (im Moment bin ich offiziell als Traubenpflücker beschäftigt) empfahl es so entschieden, dass ich den Eindruck hatte, es sei unhöflich abzulehnen. Zumal er das Essen bezahlte. Es schmeckt ein bisschen nach Rind. Während ich es aß, schloss ich meine Augen, falls das hilft. Ich dachte an die Geschichte, die Dad immer vorlas, als du etwa sechs Jahre alt warst. Ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst. Sie handelte von einem Baby-Koalabären, der Joey hieß. Er wollte in den Wipfel eines Aprikosenbaumes klettern, wo die dicksten, saftigsten Aprikosen hingen. Er schaffte es nicht. Keine Sorge, es geht gut aus. Erinnerst du dich? Du hasstest die Dunkelheit und

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