Tage des letzten Schnees: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)
manche krakelig, alle von Hand geschrieben, vermutlich von allen Schülerinnen und Schülern.
Dann also heute, dachte sie.
Heute endlich würde sie eine Pause einlegen, gemeinsam mit Anna. Die Pause, die Anna immer hatte machen wollen, eine Pause von unbestimmter Dauer. Sie setzte sich auf das Gras neben das Grab, schloss die Augen und nahm sich vor, die Zeit zu nutzen.
Sie würde versuchen, sich vorzustellen, woran Anna gedacht hatte an den frühen Vormittagen, an denen sie stehen geblieben war und ihren schweren Schulranzen abgesetzt hatte. Um in aller Ruhe die Bäume hinter der flachen Mauer anzusehen und die Gräber, die in ihrem Schatten gelegen hatten.
ZUR SELBEN ZEIT, IN EINER GESCHICHTE, DIE NICHT ERZÄHLT WIRD
49
Jarkko Falk macht einen langen Spaziergang, in der Nacht, er schlendert und vergleicht Wärme und Kälte, die Wärme des Tages mit der Kälte, die die Nacht gebracht hat, die Erinnerung an Wärme mit der Präsenz von Kälte.
Eine Gleichung, die aufzugehen scheint, und die Schusswaffe, die er in seiner Hand hält, ist ein Fremdkörper aus einem parallelen Universum, in dem Wärme und Kälte so unmittelbar ineinanderfließen, dass keine von beiden mehr existieren muss.
Dann steht er am Ufer des Sees und durchdenkt ein weiteres Mal, ein letztes Mal, sein Vorhaben, stellt die Frage in den Raum, ob da eine Lücke in der Logik enthalten ist.
Lange hat er zu Hause in der Küche gesessen, die Waffe vor sich auf dem Tisch liegend, und an Réka gedacht, daran, dass sie den Mund geöffnet hat, um etwas zu sagen, kurz bevor er abgedrückt hat, nicht wirklich wissend, was er tut, weil er nicht weiß, wie eine Waffe funktioniert.
Nicht die Logik ist lückenhaft, sondern die Erinnerung. Er weiß noch, dass er vor dem weißen Haus gestanden und sie gehört hat, auf dem Balkon, lachend, in einer Sprache sprechend, die er nicht verstand, mit einem fremden Mann. Er erinnert sich daran, hineingegangen zu sein, ins Haus, er ist mit dem Aufzug nach oben gefahren. Hat an der Tür gestanden, durch die das Lachen drang, und geklingelt.
Sie öffnet. Ihr Lachen erfriert. Das hat er gedacht, in diesem Moment, ein Lächeln, das erfriert, obwohl das natürlich nicht möglich ist, ein Lächeln erfriert nicht, nicht im streng mathematischen Sinn. Sie sieht ihn an, als wisse sie gar nicht, wer er ist. Daran erinnert er sich sehr deutlich. An diese ungeheure Verwirrung, an eine grenzenlose Irritation in ihren Augen, an dieses Gefühl, dass ihn die Frau, die seine Gedanken ausfüllt, für einen Fremden hält.
Der Mann kommt, den er nicht kennt, ein großer Mann, der mit ihr zu sprechen beginnt, und dann ist er plötzlich im Raum, geht an Réka vorbei zu dem weißen Sofa in der weißen Wohnung, die in hellem, klarem Licht liegt, und Réka fragt, was zum Teufel er hier mache. What the hell are you doing here?
Dabei müsste doch er diese Frage stellen.
Sie spricht mit dem Mann, er versteht sie nicht, der Mann lacht, freudlos, dann schüttelt er den Kopf, schüttelt unablässig den Kopf und lacht, so als passierten hier gerade Dinge, die auf lächerlichste Weise jenseits jeder Vorstellungskraft liegen.
Womit er eigentlich recht hat.
Dann gibt der Mann Réka eine Ohrfeige. Der Mann scheint unendlich wütend auf sie zu sein. Und Réka beginnt wieder zu reden, auf Englisch. Was er hier mache, woher er plötzlich komme, woher er eigentlich wisse, wo sie wohne, woher er eigentlich wisse, dass sie in Finnland sei, und Jarkko Falk fragt sich, was diese Fragen sollen.
Die Waffe liegt auf dem flachen Tisch, liegt einfach so da, vor dem weißen Sofa, auf das sich Réka setzt, während sie spricht, so als müsse sie sich ausruhen, als sei es alles zu viel auf einmal.
Und genau da begreift Jarkko Falk, dass sie recht hat, aber zu spät, er begreift, dass sie nicht böse und nicht fremd ist, sie ist nur gefangen in einer bösen, fremden Situation, genau wie er selbst, aber er begreift zu spät, er hält schon die Waffe in der Hand, und der große Mann weicht zurück, überrascht, die Hände hebend, als wolle er ihn besänftigen. Der große Mann redet, er versteht ihn nicht, aber vermutlich sagt er etwas wie: Pass auf, Kleiner, die ist scharf, die ist geladen. Die habe ich da nur mal kurz abgelegt.
Jarkko Falk sieht die Angst in Rékas Augen und begreift in dem Moment, in dem er abdrückt, dass er sich geirrt hat, dass Réka bei ihm ist, wie sie immer bei ihm gewesen ist. Es ist nur alles zu viel auf einmal, für sie, für ihn, für
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