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Tage des letzten Schnees: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)

Tage des letzten Schnees: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)

Titel: Tage des letzten Schnees: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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Schatten spendend über die Gräber zu beugen. Er parkte den Wagen und stieg aus, der Kies knirschte unter seinen Schritten. Die Namen, die er las, blieben fremd, die Buchstaben stimmten nicht, und wenn die Buchstaben stimmten, stimmten die Zahlen nicht. Als er das Grab erreicht hatte, das er suchte, ging er zunächst vorüber, ohne stehen zu bleiben, weil er sich daran gewöhnt hatte, es nicht zu finden, und weil er zu hoffen begonnen hatte, niemals fündig zu werden.
    Er blieb stehen, ging ein paar Schritte, begann noch einmal zu lesen. Die Sprache, die er lernen musste, um neu beginnen zu können. Die Buchstaben waren die richtigen, ergaben Sinn. A, n, n, a.
    Geboren am 24. Juni, gestorben am 1. Mai. Die Summe der Jahreszahlen, im Ergebnis einer Subtraktion, ergab elf. Der Nachname, der in den Medien nie genannt worden war, lautete Ekholm. Der Grabstein war schmal und klein. Die Schrift und die Zahlen wurden eingerahmt von einem Herz, das in den Stein gemeißelt worden war.
    Er ließ seinen Blick auf den Buchstaben und Zahlen ruhen. Und auf der Silhouette des Herzens, das die Zahlen und Buchstaben aufzufangen und im Gleichgewicht zu halten schien. Zum ersten Mal seit einiger Zeit hatte er das Gefühl, ein Ziel erreicht zu haben, am richtigen Ort zu sein, und die Stimme des Mannes, der mit ihm sprach, näherte sich langsam, aus der Ferne. Der Mann sagte ein Wort, genau das Wort, das ihm auf den Lippen lag.
    »Entschuldigung.«
    Sedin drehte sich um.
    »Entschuldigung, ich müsste kurz …«
    »Oh«, sagte Sedin. »Natürlich.« Er wich zur Seite und ließ den Mann, der eine grüne Gießkanne in der Hand hielt, an das Grab herantreten. Der Mann stand dem Grab zugewandt, betrachtete den Grabstein, schien die Worte zu lesen, die Zahlen.
    Sedin lief. Schritt für Schritt behutsam setzend. Er dachte, dass er Bergenheim anrufen musste, um ihm mitzuteilen, dass er den Nachmittag freimachen werde. Fieber, Sommergrippe, nichts Ernstes.
    Als er den Parkplatz fast erreicht hatte, drehte er sich noch einmal um und sah den Mann, der die Gießkanne anhob. Das Wasser fiel wie leichter Regen auf die Erde des Grabes, aber sie würde schon bald wieder getrocknet sein.
    Vorausgesetzt, dass Ville mit seiner Prognose recht behalten und der kommende Tag ebenso heiß werden würde wie der, der gerade verging.
51
    In Helsinki saß Westerberg auf der Bank, auf der zwei Monate zuvor die tote Frau gelegen hatte. Er betrachtete den beginnenden Sonnenuntergang und seinen Kollegen Seppo, der in einiger Entfernung, auf und ab gehend, telefonierte.
    »Die Maklerin ist gleich da«, rief Seppo, nachdem er sein Gespräch beendet hatte. »Und sie bringt den Menschen von der Hausverwaltung gleich mit, der hat einen Generalhauptschlüssel, der zu allen einhundertfünfzig Wohnungen der Anlage passt.«
    Generalhauptschlüssel, dachte Westerberg.
    Einhundertfünfzig Wohnungen.
    »Also, hundertsiebenundfünfzig, um präzise zu sein«, sagte Seppo, der an die Bank herangetreten war, und Westerberg fragte sich, ob Seppo inzwischen schon Gedanken lesen konnte.
    »Wir haben ja vierundvierzig bereits vermietete oder von Eigentümern bezogene Wohnungen dieses Baukomplexes in der frühen Phase abgearbeitet«, sagte Seppo. »Bleiben im Prinzip hundertdreizehn. Viele dieser Wohnungen stehen noch leer.«
    Westerberg nickte. Er saß auf der Bank, auf der die Leiche der toten Frau gelegen hatte, und seine Füße ruhten auf dem Grund, auf dem der tote Mann abgelegt worden war, aber er fühlte nichts. Nichts erinnerte an das Szenario, das die Ermittler am Morgen des zweiten Mai vorgefunden hatten, nichts erinnerte daran, dass hier jemals Schnee gelegen hatte, und sicher war nur, dass diese Ermittlung, langsam, aber stetig, begonnen hatte, im Sand zu verlaufen.
    Auf Höhe der schneeweißen Häuser, an der Stelle, an der zwei Monate zuvor die Schaulustigen ausgeharrt hatten, standen jetzt die Kollegen, die mithelfen würden, die Nadel im Heuhaufen zu suchen. Zwölf, wenn Westerberg richtig zählte. Vierzehn Polizisten also, inklusive Seppo und Westerberg, hundertdreizehn Wohnungen und ein vages Vielleicht.
    Vielleicht hatten die beiden in dieser neuen Siedlung gewohnt. In einer Wohnung mit Meeresblick. Vielleicht auch nicht. Vielleicht nur die Frau, denn sie war in diesem Park gesehen worden, den Befragungsprotokollen zufolge vier Mal. War das wenig oder viel? Eher wenig, wenn man in Betracht zog, dass mehr als zweihundert Anwohner in der näheren und weiteren Umgebung

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