Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tage des letzten Schnees: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)

Tage des letzten Schnees: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)

Titel: Tage des letzten Schnees: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
Vom Netzwerk:
Bild. Das Bild, das er sah, war wie ein Gemälde, das man nur einmal ansehen musste, um es nie wieder zu vergessen.
    Die Frau saß auf einem Stuhl. Sie trug ein dunkelblaues, mit Blumen gemustertes Kleid. Hinter der Frau stand ein jüngerer Mann, der beide Hände auf die Schulter der Frau gelegt hatte, als wolle er sie beschützen. Auf eine ähnliche Weise hielt die Frau ihre Handtasche, sie hielt sie mit beiden Händen umklammert, und Joentaa dachte unwillkürlich, dass sich darin ihr ganzes Leben befinden musste, alles, was sie besaß.
    Die Frau öffnete die Tasche und nahm ein Foto heraus, das sie Westerberg reichte. Westerberg nahm das Foto und sah es an. Seppo näherte sich, und Joentaa glaubte, ein leises Aufseufzen aus seinem Mund zu hören, während er selbst näher trat, dann sah er in das lachende Gesicht des Mädchens, das vor wenigen Stunden beerdigt worden war. Das Mädchen trug ein gelbes T-Shirt und eine dunkelblaue Shorthose, es stand vor der Kulisse eines Meeres, deutete auf die Wellen und schien auf dem Sprung zu sein, kurz davor, einfach loszurennen, ins Wasser.
    »My daughter«, sagte die Frau. »My daughter.« Es klang, als habe ihr jemand diese beiden Worte beigebracht, als habe sie sie auswendig gelernt, ohne die Sprache, in der sie gesprochen wurden, verstehen zu können. Der junge Mann, der hinter ihr stand, sagte nichts, er nickte nur bestätigend.
    »Wir brauchen sofort einen Übersetzer«, sagte Westerberg. »Rumänisch, Ungarisch. Am besten beides.«
    Seppo nickte und schien sofort zu wissen, welche Nummer er wählen musste. Er verließ den Raum, und Joentaa hörte vage, dass er sich mit einem sprachwissenschaftlichen Institut der Universität verbinden ließ. Sie standen vor dem Bild. Westerberg löste sich langsam aus der Erstarrung und setzte sich an seinen Schreibtisch, der Frau gegenüber. Er nickte ihnen aufmunternd zu und sagte, dass ein Übersetzer gesucht werde.
    »Or may I … do you speak a little bit English?«, fragte er.
    Die Frau reagierte nicht, der Mann schüttelte den Kopf.
    »Ok, no problem. My … colleague is trying to find someone who … anyway …« Er lehnte sich zurück. Legte das Foto vor sich auf den Tisch, ganz sachte legte er es ab, als sei es zerbrechlich, und Seppo kehrte zurück.
    »Gut, wir haben jemanden. Ich habe gesagt, dass es extrem eilt, und einen Wagen hingeschickt.«
    »Bestens, Seppo. Danke dir«, sagte Westerberg.
    Dann saßen sie schweigend, wartend. Joentaa dachte an den Pfarrer, der im Sommerregen über fremde Menschen gesprochen hatte, und daran, dass er zugehört hatte, gemeinsam mit Seppo und Westerberg. Die Frau hielt ihre Handtasche noch immer umklammert, obwohl sie das Bild ihrer Tochter schon herausgenommen hatte.
    »Réka«, sagte sie irgendwann und deutete auf das Foto auf dem Schreibtisch.
    Réka, dachte Joentaa. Und dass er Larissa anrufen musste, um sie nach ihrem Namen zu fragen.

IN EINER ANDEREN ZEIT, AN EINEM ANDEREN ORT
58
    Mittag, Marktplatz, Macchiato.
    Mari.
    Das ist neu. Das ist hip. Das ist hop. Das ist Mari, in meinem Café, winkt, großes Hallo, hallo Unto, wie schön, dich zu sehen. Verschiedene Aspekte unverständlich.
    Erstens: Woher weiß Schwesterherz, dass ich hier bin.
    Hat mir Kari erzählt, sagt sie.
    Kari?
    Ja, dein Freund Kari, hat mir gesagt, dass du manchmal hier bist. Manchmal zu Hause, manchmal hier. Eins von beiden. Zu Hause warst du nicht, also habe ich es hier versucht.
    Kari?, wiederhole ich. Du hast … Kari … angerufen?
    Sie nickt.
    Also … damit ich das richtig verstehe … Telefonnummer gesucht … so … im Telefonbuch, und dann angerufen, um zu erfahren, wo ICH bin?
    Sie nickt.
    Ok, sage ich.
    Ok, sagt sie.
    Jo.
    Zweitens: Spinne ich oder geht Schwesterherz aus dem Leim?
    Sie lacht.
    Entschuldige, aber irgendwie …
    Das sei manchmal so, sagt sie. Monate lang sieht man nichts, dann alles.
    Jo.
    Sie sei schwanger, sagt sie.
    Jo.
    So … mit Kind im Bauch, meint sie wohl.
    Jo.
    Ich muss lachen. Das Lachen tut weh. Schmerzlachen.
    Mari schweigt. Bestellt sich einen Macchiato. Die Bedienerin, von kräftigem Wuchs, lächelt, schielt auf den Bauch, und Mari, Schwesterherz, erzählt mir, dass sie es wegmachen wollte, bis zum letzten Tag, bis zur allerletzten Minute, sie hat schon auf irgendeinem Ding gelegen, hat alle Formulare ausgefüllt, da war schon der Arzt mit seiner BERUHIGENDEN Stimme und seinem WERKZEUG , bereit, seine Arbeit zu tun, und dann ist sie gegangen. Abgehauen. Hat sich ANDERS

Weitere Kostenlose Bücher