Tage des letzten Schnees: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)
sagte sie, und dann standen sie im Freien, in einer plötzlichen Kälte.
»Hu«, sagte Marisa und verschränkte die Arme. »Was ist denn jetzt los?«
»Die haben anscheinend wirklich recht gehabt mit der Ansage«, sagte Sven Lövgren, ohne von der Rakete aufzusehen, vor der er kniete.
»Womit recht gehabt?«, fragte Virpi.
»Morgen sollen die Temperaturen in den Keller gehen. Der Wetterfuzzi bei YLE -Radio meinte, es stünde die heftigste Kaltfront bevor, die er zu dieser Zeit des Jahres je die Freude gehabt hat, kommentieren zu dürfen.«
»Aha«, sagte Virpi.
»Aber … eben war doch noch Sommer«, sagte Marisa.
»Hauptsache, die Raketen zünden«, sagte Ari.
»Zieht euch bitte was über, Kinder«, sagte Virpi.
»21.14 Uhr«, sagte Kirsti. Sie stand in ihrem leichten, sommerlichen Kostüm auf der Terrasse, mit offenen Armen, entspannt, und schien die Kälte nicht zu spüren. Ari zündete die erste Rakete, die Kinder staunten, Sven Lövgren zündete die zweite, und ein grüner, roter, gelber, goldener Splitterregen erhellte den schwarzen Himmel.
Die Welt explodierte, Lasse Ekholm fühlte Ruhe.
Alle umarmten Ari, Lasse Ekholm wollte Kirsti umarmen. Er nippte an seinem Sekt, spürte ein Prickeln auf der Zunge und schüttete den Rest in den Schnee. Er folgte dem Blick der Kinder und sah den Farbenregen, und Ari Kauppinen legte eine Hand auf seine Schulter.
»Ach Lasse …«, sagte er, verstärkte den Druck seiner Hand. »Schön, dass ihr gekommen seid.«
Ekholm nickte. Dann gingen alle zurück ins Haus, einige begannen zu tanzen. Ari hielt plötzlich ein Mikrofon in der Hand und schlug einen Karaoke-Wettbewerb vor. Kirsti sang als Erste. Wild World von Cat Stevens. Ihre Stimme klang fremd und schön. Ekholm dachte darüber nach, dass er gar nicht gewusst hatte, wie gut sie singen konnte.
Kirstis Stimme verklang mit den letzten Akkorden der akustischen Gitarre. Danach Stille, dann Applaus. Auch er bewegte seine Hände. Kirsti hielt den Kopf gesenkt und tanzte zaghaft im Rhythmus des nächsten Liedes. Ari nahm das Mikrofon, und Lasse Ekholm war ein wenig erleichtert zu hören, dass sein alter Freund so schief sang, wie er das immer getan hatte.
Er dachte an Laura, Annas Freundin. An die Idee, gemeinsam Abend zu essen, eine gute Idee, aber nicht alle guten Ideen wurden verwirklicht. Er beugte sich zu Ari hinunter, der über dem Karaoke-Computer hing und ein bestimmtes Lied zu suchen schien, und erklärte noch einmal die Sache mit dem Abendessen. Und dass das nicht machbar gewesen sei, wegen der Chemie-Prüfung am nächsten Morgen.
Ari musterte ihn besorgt. Kirsti sang. Der Schmerz vibrierte in ihrer Stimme und flutete seinen Körper. Die anderen tanzten im Takt des Liedes und klatschten Kirsti Mut zu, feuerten sie an.
»Lasse, du musst aufhören, über diese Dinge nachzudenken«, sagte Ari. Er sprach laut, seine Lippen waren nah an Ekholms Ohr, aber die Worte blieben vage und dumpf, sie hatten nicht die Kraft, die Musik und Kirstis Stimme zu übertönen. Ekholm nickte, ohne den Blick von Kirsti abwenden zu können.
Er ging zum Tisch, nahm sich noch ein wenig von dem Tiramisu und der Erdbeersoße und sah Kirsti beim Singen zu. Eine Ballade. Sie las den Text von einem Zettel ab, den Ari ihr gereicht hatte. Marisa und Sven tanzten eng umschlungen. Ihre Tochter, Aliisa, lag auf dem Sofa, sie war eingeschlafen. Das Tiramisu schmeckte süß, die Erdbeersoße sauer. Ari kehrte zurück, sein Freund, sein Anwalt.
»Lasse, du musst dich zwingen. Du musst ins Leben zurück«, sagte er, langsam, jedes Wort sorgfältig wählend, jeden Buchstaben betonend, wie immer, wenn er betrunken war.
72
Der Satz ging Joentaa nicht aus dem Kopf, der beiläufigste Satz in Larissas Nachricht.
Er nahm den Laptop und loggte sich in den passwortgeschützten Bereich ein, in dem die Ermittlungsprotokolle archiviert waren. Er wusste nicht, was er suchte, aber er suchte zum ersten Mal unter einer neuen Prämisse. Er überflog die Gesprächsprotokolle, die Ergebnisberichte der Kriminaltechnik und blieb schließlich an einem PDF -Dokument hängen, in dem die Geldeingänge und Geldausgänge der Familie Nagy verzeichnet waren.
Joentaa erinnerte sich an ein Telefonat, in dem Westerberg müde darauf hingewiesen hatte, dass es ein Kampf sei, diese Unterlagen zu bekommen. Der Anbieter des Bargeldtransfers, den die Mitglieder der Familie Nagy nutzten, hatte sich als große Firma mit erstaunlich wenigen Ansprechpartnern erwiesen, die in den
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