Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
wußte sie trotz Trauer; aber sie hätten ihn gefreut. Übrigens sagt die Witwe es niemand. Wann immer es sich um Marcel handelt (was allerdings immer seltener vorkommt), zeigt sie sich als eine beispielhafte Witwe; man kann mit ihr durchaus verhandeln, sie bleibt verständig und tut nicht, als bleibe der Tote sozusagen der Vorgesetzte über seine Nachfolger im Amt; es genügt ihr der Respekt vor ihrem Mann, wie er ihn bis zu seinem Tod genossen hat. Sie hat seine frühen Briefe gelesen; das scheint es aber nicht gewesen zu sein. Es sind schöne Briefe, auch lustige. Auch ist nach seinem Tod nichts zum Vorschein gekommen, was sie hätte erschüttern können, kein Tatbestand, der ihn plötzlich als eine andere Persönlichkeit erscheinen ließ. Eine kurze Liebesgeschichte, die ihr vielleicht damals nicht gleichgültig gewesen wäre wie heute, paßt ohne weiteres zu der lebhaften Persönlichkeit, die er dargestellt hat. Sie lebt noch in der gleichen Wohnung; seine Sammlung von Kristallen, die mit dem Staubwedel auf Glanz gehalten werden, die zu vielen Fotos von Regatten (in der Freizeit segelte er) und Indisches, das an eine gemeinsame Reise erinnert, all dies ist noch da, auch das gleiche Dienstmädchen, das den Toten weiterhin Herrn Doktor nennt. Es kommt wie aus der Luft, je weniger sie an Marcel denkt, plötzlich ein alltäglicher Satz von ihm, der sie verwundert. Eigentlich hat er sich immer belogen, nicht auffällig, aber immer zu einem gewissen Grad, ohne es selber zu wissen. Seine Freunde, so scheint es, glauben ihm noch heute aufs Wort, und das verbindet sie mit der Witwe, so meinen sie. Einmal oder zweimal, als sie plötzlich weint, tröstet man sie mit Sätzen, die von Marcel sein könnten. Das erschreckt sie. Acht Jahre lang Ehe, eine gute Ehe im großen ganzen; er ist in den Bergen abgestürzt; jetzt gehen die Kinder zur Schule. Sicher wäre esdurchaus in seinem Sinn, daß sie sich wieder verheiratet; sie hört es wörtlich, wie er dazu redet. Nur glaubt sie ihm nicht mehr, je länger er tot ist. Es bleibt eine Ehe. Eigentlich glaubt sie ihm nur noch seinen Tod –
ZÜRICH LOCHERGUT
Er steht vor der Tür (ich habe klingeln lassen, aber es hat nicht aufgehört) und möchte mit mir sprechen, ein junger Jude, der an frühe Kafka-Bildnisse erinnert, Hut in der Hand, gekleidet für Sabbath. Ob er nicht ein andermal kommen könne. Sein Blick: diese Antwort hat er befürchtet. Zum Glück ändere ich meinen steifen Vorsatz, bitte herein. Was ist's? Er nennt seinen Vornamen, und da ich nach dem Familiennamen frage, sagt er: Müssen Sie ihn wissen? Schon mehrere Male stand er in dem offenen Laubengang draußen, Sprunghöhe 60 Meter. Er ist vollkommen gefaßt, aber man glaubt es ihm. Keine Personalien. Er kenne meinen Namen aus der Zeitung, dann hat er ihn an der Wohnungstüre gesehen, deswegen geklingelt. Er kann in der Synagoge nicht mit den Seinen singen und unter uns nicht leben –
P. S.
Er hat öfter angerufen (immer nur mit Vornamen) und ist öfter gekommen, obschon ich nie, je länger um so weniger, irgendeinen Rat versucht habe. Auskunft zur Person: er ist aufgewachsen in Zürich 4, Sohn eines Schneiders, er soll das Handelsfach erlernen. Mehr habe ich nie erfahren. Literatur? Kennt er nicht. Er spricht nur von sich und überhaupt nicht von sich. Was ich von Israel erzähle, kann ihn nicht interessieren. Einer Psychiaterin, die, wie ich vermute, seine metaphysische Intelligenz zu heilen versucht, verheimlicht er seine Besuche hier. Er bleibt jeweils eine Stunde, zum Schluß die Frage, ob er nochmals kommen dürfe. Bisher letzte Nachricht: er habe es der Psychiaterin jetzt mitgeteilt und gehe nicht mehr dorthin, schreibe das Tagebuch und besuche die Schule, er werde es nicht tun.
1967
Text für Brunnen Rosenhof
HIER RUHT
1967 NIEMAND
kein großer
zeitGENOSSE
ZÜRCHER
patriot
denker und
REFORMATOR
STAATSMANN
DER SCHWEIZ
oder REBELL
im XX. jahrhundert
weitsichtiger
BEGRÜNDER
PLANER
der ZUKUNFT
der freiheit
die trotzdem kommt
usw.
1967
kein berühmter flüchtling wohnte hier oder starb ungefähr hier zum ruhm unserer vaterstadt. kein ketzer wurde hier verbrannt. hier kam es zu keinem Sieg. keine sage, die uns ehrt, erfordert hier ein denkmal aus stein. hier gedenke unserer taten heute dies denkmal ist frei
hier ruht kein kalter krieger dieser stein, der stumm ist, wurde errichtet zur zeit des krieges in VIETNAM
1967
BERZONA
Elias Canetti, zwei Tage zu Besuch, ist
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