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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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gegen den Tod überhaupt, also gegen jedes Denken, das den Tod anerkennt –

Prag, Februar 1967
    Volkseigentum scheint noch nicht zur Pflege anzuspornen. Ich erkundige mich, warum die Zufahrtstraße zu der Siedlung, die schätzungsweise fünfhundert Wohnungen enthält, nach zwei Jahren noch nicht ausgebaut ist. Ein paar Bagger wühlen im Gelände. Wenn's regnet, stapfen die Einwohner durch Morast. Zwei Ämter, heißt es, können sich nicht koordinieren.Reklamieren die Einwohner nicht? Sie werden sich hüten; zuviele warten auf solche Wohnungen. Es wird viel geschwiegen.
    Besichtigung eines großen Krankenhauses: Auch hier ist die letzte Zufahrtstraße so, daß es den Krankenwagen schüttelt. Die Ärzteschaft reklamiert seit Jahren vergeblich. Der uns führt: ein Chirurg, freundlich, ungeschwätzig zu sachlicher Auskunft bereit, ein loyaler Staatsbürger. Ein neues Großkrankenhaus ist im Bau. Das alte, von den Deutschen erstellt, erinnert an Lazarett, Notbehelf zwanzig Jahre nach dem Krieg, vieles ist veraltet und ungenügend. Man muß den Kranken helfen, sagt der Chirurg, mit den Mitteln, die da sind. Medikamente? Sie bekommen alles, was es gibt, auch aus dem Westen. Er möchte einmal an einen Fach-Kongreß auch im Westen, aber dafür bekommt er die Erlaubnis nicht. Fachliteratur? Die gibt es, aber nicht im Krankenhaus, sondern in der Bibliothek in der Stadt; die Behörde spart Devisen und ist nicht zu überzeugen, daß es für die Ärtze, die ohnehin überlastet sind, unerläßlich wäre, Fachzeitschriften zur Hand zu haben für jede freie Stunde. Sie sollen in die Stadt fahren, wann immer sie sich auf dem neuesten Stand der Wissenschaft halten wollen. Warum haben die Behörden, trotz jahrelanger Petitionen der Ärzteschaft, kein Einsehen? Das sind Funktionäre, sie dienen der Partei, und daß sie auf ihrem Posten sitzen, verdanken sie nicht ihrer Eignung, sondern der Partei. Das Zimmer, wo der Chirurg sich vorbereitet oder auch schläft, schätze ich auf sechs bis sieben Quadratmeter. Ich besuche Krankensäle. Das ist traurig … Ja, sagt der Chirurg, wir hoffen alle, daß es einmal besser wird!
     
    Meine Betreuerin, jederzeit beflissen, nur Informationen zu geben, die nach ihrem Ermessen einen guten Eindruck machen, daher ängstlich, daß man an falsche Leute geraten könnte,wundert sich sehr, daß ich, Gast des Tschechoslovakischen Schriftstellerverbandes, ein Eishockey-Spiel besuchen will. Hat man mich dazu nach Prag eingeladen? Aber bitte sehr, der Gast soll sich ja frei fühlen, vollkommen frei. Daß im Hotel, das die Gastgeber mir zugewiesen haben, Mikrophone sind, habe ich nicht festgestellt; es kümmert mich auch nicht; ich denke nicht laut. Ein namhafter, aber unliebsamer Mann, den meine Betreuerin mir nicht anbietet, erhält zwei Tage lang die Auskunft im Hotel, ich sei abgereist; er widerspricht dem Concierge, versichert, daß er mit mir verabredet sei; der Concierge bleibt dabei: Abgereist! während ich im Zimmer oben warte. Als wir uns dann zufällig in der Halle treffen, glücklich über den Zufall, braucht der Concierge sich nicht zu entschuldigen; der Irrtum gehört zu seinen Pflichten. Einmal ein Ausflug aufs Land; ich lerne einen jungen Schriftsteller kennen, eine große Hoffnung, zusammen mit andern Künstlern. Ein menschlicher Tag. Freunde unter sich: kein subversives Wort, der Staat ist einfach nicht da, um so mehr die Landschaft, die Menschen dieser Landschaft, ihre Arbeit. Es geht um Poesie. Poesie als Resistance? Eines Abends, als ich einen andern in seiner Wohnung besuche, wird es spät; die Menschen sind froh um Menschen aus der Fremde. Der Mann holt mir ein Taxi zu Fuß, Mitternachtsstille in der Vorstadt ohne Menschen, ohne Verkehr, aber als mein Taxi losfährt, bemerke ich einen anderen Wagen, der, in Sichtweite parkiert, ebenfalls Licht macht und von jetzt an denselben Weg hat in die Stadt hinein, auch dasselbe Tempo. Erst kurz vor meinem Hotel biegt er ab – das kann Zufall sein …
     
    Im Hotel wohnt Ilja Ehrenburg. Meine Betreuerin, nach einer Woche schon ziemlich vergrämt, daß der Gast von selber Leute kennenlernt oder schon von früher kennt, darunter solche, die mich am Flugplatz abholen wollten und nicht durften,aber auch andere, Parteigenossen, die eine unvermeidliche Begegnung mit ihr so kurz wie möglich halten – sie tut mir leid – meine Betreuerin ist plötzlich wie verwandelt, seit sie mir eine Karte von Ilja Ehrenburg überreicht hat, plötzlich fast ohne

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