Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Augenhöhlen; auch als sie offen waren, lagen sie wie in einem Versteck hart unter der Stirn weit hinten … Unser Gespräch in Mänteln (die Bibliothek ist nicht zu heizen) würde die Bundespolizei langweilen.
Vereinigung Freitod
Der Einwand: Warum redet Ihr nur davon und tut's nicht? Ich würde antworten: Weil es damit noch nicht getan ist, daß ein Dutzend sich umbringt, bevor die Freitod-Lehre verbreitet ist. Es hat ja nur einen Sinn, wenn viele der Freitod-Lehre folgen, mindestens 20% der Bevölkerung. Nun kann es allerdings, da es schließlich keine bequeme Lehre ist, lang dauern, bis sie sich einigermaßen durchsetzt – das ist meine Hauptsorge: Die Lehre braucht uns, und so können wir, Kämpfer für die Verjüngung der abendländischen Gesellschaft, sehr alt werden.
Wieder Lust am Theater! – solange sie probieren in irgendeinem Lokal, diesmal in einem Amtsgebäude; im unteren Stock geht es um Aufenthaltsbewilligungen, Eheverkündungen, Stimmrechtsausweise usw., beim Eingang hängen Steckbriefe der Polizei; die Schauspieler tragen ihre Privat-Pullover, Privat-Frisur, wenn sie in die fingierte Situation eintreten, ihre Rolle noch in der Hand, um notfalls daraus abzulesen. Theater ohne Illusion: wobei die fingierte Situation unversehens alles Vorhandene (Amtsmobiliar) an Präsenz übertrifft. Frage an den Autor: Was meint Antoinette, wenn sie das gesagt? So fragt der Regisseur; hingegen die Schauspielerin fragt schon in der Ich-Form: Liebe ich ihn eigentlich an diesem Morgen oder nicht? Schwer zu sagen, bevor Antoinette entstanden ist; sie entsteht in dem Augenblick, da Stimme und Geste uns glauben lassen, daß sie den Kürmann liebt oder daß sie ihn nicht liebt. Später einmal, nach der Aufführung, fragt dann die Schauspielerin: Haben Sie sich denn Antoinette so vorgestellt? Das wäre gelogen; ich kannte sie ja nicht, ich schreibe Dialoge als Steckbrief, und eines Tages sitzt sie da, Wort für Wort laut Steckbrief, also lerne ich sie kennen – von Bühne zu Bühne: jedesmal eine andere.
Vereinigung Freitod
Schon wieder ein Jahr vergangen, und es ist nichts geschehen, ausgenommen eine leidige Sache: die Kur-Direktion von Vulpera (vermutlich hat ein Bar-Kellner geplaudert) schreibt, daß sie unsere Vereinigung nicht mehr in ihren Kurhäusern aufzunehmen in der Lage sei. Prestige der Heilquellen. Die Idee, unsere Jahresversammlung in einem Heilbad abzuhalten, um den Mitgliedern zwanglos die Überalterung unsrer abendländischen Gesellschaft vorzuführen, muß wahrscheinlich aufgegeben werden. Allerdings wurde auch schon vermerkt, daß der Kurpark für die Vollmitglieder und besonders für die Anwärter eine umgekehrte Wirkung habe: manche kommen sich, verglichen mit den Lemuren ringsum, plötzlich jugendlich vor. Wie wäre es mit einem Tagungsort, wo man von lauter Jungen umgeben ist? Zum Beispiel: ein Camping-Platz. (Locarno.) Was dagegen spricht: das Treiben dieser Jugend wirkt nicht immer beneidenswert. Ein andrer Vorschlag, die Jahresversammlung in einer toskanischen Villa abzuhalten, scheint mir bedenklich; in Museen hält man sich immer für lebendig. Besser als Tagungsort wäre ein städtisches Altersheim; aber diese sind alle überfüllt.
PS.
11 bisherige Anwärter haben ihr fünfzigstes Lebensjahr erreicht und sind Vollmitglieder geworden, laut Statuten, da sie ihren Austritt zeitig zu erklären versäumt haben; es wurde ihnen mitgeteilt.
PS.
Zum Freitod eines Vollmitglieds ist es noch nicht gekommen. Aber unsere Vereinigung ist auch noch jung. Hingegen ist Ettore Minelli, Maler, als Anwärter gestorben. Das erste Mal, daß die Vereinigung einen Kranz zu schicken hatte; der Text auf der Schleife war so formuliert, daß er die Trauergemeinde nicht verletzte, also ohne Glückwunsch. Wir setzten uns in die hinterste Reihe. Der Pfarrer, evangelisch, sagte das Übliche: Staub zu Staub. Wie üblich nutzte er den Anlaß, um für die Kirche zu werben. Wir enthielten uns jeder Werbung. Ein heißer Sommertag. Draußen am Grab hielten sich unsere Mitglieder korrekt; nachher verfielen einige doch dem Klischee: So jung.
PS.
Es bleibt doch bei Vulpera als Tagungsort. Die Firma HANSELMANN & SOEHNE hat ein altes Bündnerhaus erworben, beinahe ein Castello; eine Renovation ist bereits im Gang. Wir sind alle froh um diese Lösung; man hat sich so an Vulpera gewöhnt, die Landschaft, die Trinkhalle, auch an die Kur-Kapelle hat man sich gewöhnt, ab und zu bringt sie eine neue Melodie aus einem
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