Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
keinen Aufruf mehr zu unterzeichnen.
Vereinigung Freitod
7 Jahre nach der Gründung:
Unsere Vollmitglieder erreichen jetzt das Alter, das nach Statistik als durchschnittliche Lebenserwartung (in Europa) bezeichnet wird, nämlich 67. Einer sogar, Alt-Regierungsrat Huber, hat es längst überschritten. Manche Vollmitglieder erscheinen nicht mehr zur Jahresversammlung, da ihnen die Reise zu beschwerlich wird; sie erhalten aber den Jahresbericht. Keinesfalls kann man sagen, daß die Vereinigung auseinander falle. Unser Archiv (es enthält die Vorträge bei Jahresversammlungen, sämtliche Prüfungen, die Liste der Fragen und die Antworten dazu, ferner die Ergebnisse der Abstimmungen, Anträge, Beschlüsse des Plenums, Sterbefälle jeweils mit medizinischem Befund, sowie Tonbänder aller geselligen Unterhaltungen) ist allein schon ein Ergebnis, das unsere Vereinigung rechtfertigen würde; ein deutscher Gerontologe zeigt lebhaftes Interesse an unserem Archiv, das wir aber nicht aushändigen. Unsere Ehrentafel trägt immer noch einen einzigen Namen: JAKOB HAURI. (Eine Segelflug-Sektion, wie ich sie seinerzeit angeregt habe, ist nie verwirklicht worden.) Eine bemerkenswerte Tatsache: es sind in diesen sieben Jahren insgesamt 19 Anwärter eines natürlichen Todes gestorben, wogegen nur 2 Vollmitglieder; es scheint, daß die Sterblichkeit nach dem fünfzigsten Lebensjahr eher abnimmt. Austritte aus der Vereinigung Freitod: 9, einer davon mit der aufrichtigen Begründung, daß er sich die Willenskraft zu einem Freitod nicht mehr zutraue. Eine Zweidrittelmehrheit, wie sie nötig wäre, um ein Vollmitglied wegen nachweisbarer Vergreisung auszuschließen, ist in diesen sieben Jahren nie zustande gekommen. Es wirkt sich aus, daß sieben Jahre nach der Gründung die meisten Vollmitglieder über 60 sind, einige schon 70: ihre Maßstäbe ändern sich. Kein Wunder, daß die Zahl der Anwärter jetzt wieder abnimmt; Männer unter 50, der Freitod-Idee zugetan aus gesellschaftlichem Verantwortungsbewußtsein, werden stutzig, wenn sie unsere Jahresversammlung sehen und hören. Kaum einer, der sich als Vollmitglied noch einmal zum Wort meldet, kann eine Viertelstunde lang sprechen, ohne sagen zu müssen: Wie heißt schon wieder der Ort? Wenn es auch nicht so weit geht wie bei Lübke, es ist peinlich. Auch im Gespräch bei Tisch: Jetzt ist mir der Name entfallen, aber Sie wissen schon, also kurz und gut! und zehn Minuten später, wenn man bereits von etwas anderem spricht, kommt es: Jünger heißt er, Ernst Jünger, nicht der andere, das ist sein Bruder. Es ist mühsam. Was die Vereinigung trotzdem zusammenhält: das Alter, wo man keine neuen Freundschaften mehr macht. Alle tragen jetzt schwarze Schuhe mit halbhohem Schaft. Nur Anwärter sitzen noch auf Bar-Hockern. Die gemeinsamen Wanderungen sind inzwischen abgeschafft. Wenn einer aus eigenem Willen wandert, meldet er nachher seinen ganzen Weg, dann reden andere von Wanderungen, die sie früher einmal gemacht haben, und tun, als wäre es vorgestern gewesen. Mein Vorschlag, die Jahresversammlung jeweils zu krönen durch eine Reise mit Charter-Maschine, ist ein einziges Mal verwirklicht worden; die Vereinigung flog nach Las Palmas; man will aber keine Tradition draus machen angesichts der hohen Unfall-Quote bei Charter-Maschinen. Alle hängen am Leben. Eigentlich wird es überflüssig, daß die Gespräche auf Tonband genommen werden; was immer in der Welt geschieht, sie haben es immer schon gesagt. Dabei sind sie über die Weltlage nicht verzweifelt, solange es Leute gibt wie sie. Alles Neue (Unruhe an den Hochschulen) erkennen sie als vorübergehend; auch sie waren einmal jung. Alle sind immer noch gegen Hitler.
10 Jahre nach der Gründung: – alle sieben Gründer sind noch immer am Leben. Ein einziges Mal hat die Jahresversammlung gegenüber einem Gründer (– es war nicht Hanselmann, dem wir ja das Haus zwischen Vulpera und Tarasp verdanken) durch Zweidrittelmehrheit zu verstehen gegeben, daß es an der Zeit wäre. (Ich gab meine Stimme ebenfalls in diesem Sinn, kann aber nicht verschweigen, daß meines Erachtens deralte Hanselmann dann auch an der Reihe wäre.) Als das Ergebnis unsrer geheimen Abstimmung verlesen wurde, herrschte Stille im Raum. Schließlich geschah es, wie gesagt, zum ersten Mal, daß die vereinbarte Formel verlesen werden mußte: Die Vereinigung ist nach sorgsamer Prüfung zu dem Schluß gekommen usw., im Sinn unsrer Statuten usw., steht es im Ermessen des
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