Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Film. Auch wenn man nicht mehr lang wandert, wenn man im Kurpark sitzt oder im nahen Wald nur zur dritten Bank geht, man kennt einfach die Gegend, die Namen ringsum: Laj Nair, Naluns, Fetan, Sent, Guarda, Il Fuorn, S-charl usw. Man kann den Anwärtern sagen, wie sie am besten gehen. STIFTUNG SANKT BONIFACIUS
Schrift in Bronze auf Travertin.
1968
Vereinigung Freitod
Endlich Freitod eines Vollmitgliedes. Es ist der erste Name auf unsrer Ehrentafel: JAKOB HAURI. Gerade in diesem Fall hat es niemand erwartet; niemand hätte es diesem Mann empfohlen, auch nicht in geheimer Abstimmung. Ich erinnere mich an unser letztes Gespräch vor einem Jahr. Er war Physiker, als Mittelschullehrer noch im Amt, 59, von seinen Schülern geschätzt. Es war im Engadin (auf der Rückfahrt von einer Jahrestagung, die wir beide kläglich fanden) in Sils, wo ich meinte, Segelfliegerei müßte man lernen. So haben sich die Alten (die Vorfahren) das Fliegen vorgestellt, Leonardo da Vinci. Hauri erklärte mir die Thermik. Aufsteigen der warmen Talluft gegen Abend; aber so simpel, wie ich es meinte, ist es nicht. Ich erinnere mich noch heute an seine Zeichnungen auf einer Serviette. Anderntags auf dem kleinen Flugplatz von Samedan besichtigen wir die Segelflugzeuge aus der Nähe. Als ich mich erkundigte, wieviel Flugstunden man braucht, Frage des Fluglehrers: Wie alt ist Ihr Sohn? Als Hauri zu verstehen gab, daß wir uns selber meinen, sagte der junge Sportler in seinem blauen Overall: Warum nicht! Er hielt's für einen Scherz –
Wie jetzt bekannt wird, war es sein einundvierzigster Alleinflug. Spitzenhöhe 2900 Meter. Er befand sich bereits im Niederflug, als das Unglück geschah unterhalb des Piz Padela. Laut Flugwacht: Herr Professor Hauri stieg korrekt mit Aufwind bei Muottas Muragl, segelte dann über die Seen, erneuter Aufstieg bei Marmore, kam in guter Höhe später über Corviglia, segelte bereits gegen Madulein, wo er drehte, erneuter Aufstieg bei Munt Gravatatscha und nochmals in großer Höhe hinüber gegen den Piz Padela. Kein Föhn, kein Nebel, Spätnachmittag mit einwandfreier Sicht. Laut Augenzeugen, die bei Trais Fluors wanderten, segelte er geradaus in eine Wand, wo sein Flugzeug hängen blieb. Eine Tragfläche ausgerissen, Kabine nicht zerschellt, Hauri nur mit leichten Verletzungen. Die Obduktion der Leiche ergab Herzschlag. Insofern kann bestritten werden, daß es sich um Freitod handelt. Ein Brief in seinem Auto, den er bereits frankiert hatte und der bei einer Buchhandlung eine Fachschrift bestellte, sowie die Tischbestellung im Restaurant Bernasconi für diesen Abend, all dies spricht dafür, daß Hauri in der Ebene von Samedan hatte landen wollen wie 40 Mal zuvor. Der Unfall, sagt der Fluglehrer, war unnötig, der Flug korrekt, bis Hauri einfach gradaus in die Wand segelte. Die Vereinigung hat beschlossen, daß sein Name auf die Ehrentafel kommt. Ein Mann, der sich mit 59 in der Segelfliegerei ausbilden läßt, weiß, was er tut.
PS.
Ich werde Antrag stellen, daß die Vereinigung, statt von Jahresversammlung zu Jahresversammlung zu überaltern, eine Segelflug-Sektion gründet; ferner eine Sauna-Sektion usw. Alle diese Sektionen versprechen Ertüchtigung; die Freitod-Idee bleibt dabei unausgesprochen. Ferner wäre zu erwägen, ob nicht sämtliche Vollmitglieder, also auch jene, die weniger Mut haben als Hauri, jedes Jahr zu einer gemeinsamen Reise zu verpflichten sind, Reise mit Charter-Flugzeug.
Aufrufe immer mit einer Liste möglichst bekannter Namen, Nobelpreisträger besonders erwünscht, dabei ist nicht zu vermeiden, daß wieder einmal dieselben Namen erscheinen, von Mal zu Mal wertloser; die Öffentlichkeit weiß jetzt schon: Der ist ja auch gegen die USA-Invasion in Vietnam, gegen die Militär-Junta in Athen, gegen Folterungen wo auch immer, für Amnestie in Portugal und in Spanien und so, kein Wunder, daß der wieder etwas hat gegen die DOW-CHEMICAL in Zürich, weil sie Napalm herstellt für Vietnam und dafür Stipendien an Künstler gibt, schließlich kennt man diese Aufrufer: – Wir, die unterzeichneten Wissenschaftler und Künstler und Schriftsteller, verurteilen das und das, wir fordern … Was verspricht man sich von solchem Ernst? Immer das Naive daran: als wäre Moral ein Faktor in der Politik. Effekt? Macht reagiert nur auf Macht, die eben die Unterzeichneten nicht haben; ihr Aufruf manifestiert es. Nachher immer ein fades Gefühl von Wichtigtuerei. Ich beschließe (nicht zum ersten Mal)
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