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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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genannten Mitglieds usw., erinnert die Vereinigung an das unterschriftliche Versprechen aller Mitglieder usw., und dankt dem genannten Mitglied heute schon. Natürlich blickte zuerst niemand auf das genannte Mitglied; einige saßen mit verschränkten Armen, Blick hinauf zu der schönen Holzdecke (Arve) oder sonstwohin, andere blätterten im Jahresbericht. Auf die vorschriftsgemäße Frage: Nimmt unser Mitglied diesen Mehrheitsbeschluß an? weiterhin Stille. Der Genannte, ich saß neben ihm, knipste sich gerade eine Zigarre; er hatte seinen Namen nicht gehört. Als ich ihn, nicht ohne ihm zugleich Feuer für die Zigarre zu geben, aufmerksam machte, daß der Vorsitzende noch auf seine Antwort warte, zeigte er sich nicht erschreckt, grinste mit seinen wässerigen Äuglein aus einem immerroten Gesicht: Paß du nur selber auf! und rauchte endlich an seiner Zigarre, die naß war wie ein Lutscher. Es wurde ihm schriftlich beigebracht. Als es zum Rekurs kam, somit zur erweiterten Prüfung am andern Tag, waren es vor allem die jüngeren Vollmitglieder, Anfangfünfziger, die durch milde Wertung auffielen. Warum gerade sie? Ich weiß es nicht. Der Rekurs hatte Erfolg. Vielleicht weil es sich um einen Gründer handelte. Eins ist klar: bei der ersten Abstimmung, deren Ausgang niemand wissen kann, stimmen sie sachlicher; beim Rekurs siegt das Humane. Wie ein Anwärter, der mir den Mantel hielt, richtig bemerkte: Schließlich immer noch ein Mensch! Das war übrigens unsere erste Jahresversammlung im neuen Haus, also auch schon vor Jahren.
    Gestern also das Jubiläum.
    Wenn einer der Gründer sagt: Auch Picasso hat noch mit 80, auch Theodor Fontane, wie wir einmal gehört haben – und dazu Baltensperger: Denken wir nur an Tizian! – ich sage: Meine Herren! ich erhebe mich: Unsere Vereinigung steht in Gefahr, meine Herren, ein Jahrgänger-Verein zu werden. (Die Jüngeren, die Anfangfünfziger, protestieren heiter.) Ich bin jetzt 67, jawohl, aber ich glaube sagen zu dürfen – (Zwischenruf: Zur Sache!) – und wenn nicht ein Jahrgänger-Verein, meine Herren, so doch ein Club Methusalem. (Kein Widerspruch, daher verliere ich den Faden, was mich aggressiv macht:) Export und Import in Ehren, Hanselmann, aber wenn Sie, Hanselmann, sich auf Theodor Fontane hinausreden, und wenn Sie, Baltensperger, sich auf Tizian hinausreden, ich muß schon sagen. (Zwischenruf: Bertrand Russell!) Sie sagen es, (rufe ich in den hinteren Saal:) haben Sie denn Bertrand Russell in letzter Zeit gesehen? (Zwischenruf vorne: Was wäre Frankreich ohne General de Gaulle?) Meine Herren, (sage ich ruhig, aber wieder Zwischenruf: Und Albert Einstein? ein ganzer Chor: Einstein, Albert Einstein! ich sage noch ruhiger:) Sie sind Anfang 50, Sie sehen unter uns Älteren keinen Einstein und nicht einmal einen Bertrand Russell, ich finde es widerlich, wenn wir uns mit berühmten Sonderfällen zu trösten anfangen. Ist das der Sinn unsrer Vereinigung? (Schweigen.) Sie alle kennen die Satzungen, noch keiner hat ihnen Folge geleistet, meine Herren, noch keiner von Ihnen. (Zwischenruf: Und Sie?) Meine Herren. (Zwischenruf: Und Sie?) Ich habe sagen wollen: noch keiner von uns. Wenn das so weitergeht, meine Herren, sitzen wir aber noch als Neunzigjährige zusammen und versprechen Verjüngung der abendländischen Gesellschaft. (Kichern bei den Anfangfünfzigern.) Meine Herren, ich finde es nicht zum Kichern – auch nicht zum Kopfschütteln, Herr Alt-Regierungsrat Huber, obschonSie heute noch wie ein Sechziger aussehen. (Zustimmung.) Darum geht es aber nicht. (Zwischenruf von Alt-Regierungsrat Huber: Sondern?) Ich weiß, meine Herren, wir sind soweit und nicht nur in dieser kleinen Versammlung, wir sind überhaupt soweit: man hält es einem 75-jährigen zugut, daß er tatsächlich wie ein 60-jähriger aussieht, und wenn ein 90-jähriger aussieht wie ein 75-jähriger, so tun wir, als wäre das Problem wieder einmal gelöst – nebenbei bemerkt, meine Herren, ich halte diesen gestrigen Lichtbilder-Vortrag für verfehlt: Wenn die Georgier sogar 110 und 120 werden, so ist das ihre Sache! Es ist nicht damit getan, (sage ich wieder sachlich:) daß sich die Zahl unsrer Vollmitglieder vermehrt. Übrigens kann ich Ihnen mitteilen, daß es heute nicht 43 sind, wie im Jahresbericht steht, sondern 45, nachdem sich heute Vormittag in der Trinkhalle zwei weitere Herren eingeschrieben haben als Vollmitglieder: Sir Ralph Emerson, ehemals Konsul in Bombay, ich begrüße ihn als ersten Ausländer

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