Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
in unsrer Vereinigung, die immer schon als eine internationale gedacht war. (Der Brite erhebt sich.) Herr Peider Caflisch, ehemaliger Tennis-Lehrer, jetzt Ausschenker in der Trinkhalle, wie Sie wissen. (Es erhebt sich niemand.) Herr Caflisch läßt sich entschuldigen, da er um diese Zeit in der Trinkhalle tätig ist. Ich begrüße aber auch Herrn Caflisch im Namen der Vereinigung Freitod. (Beifall durch Nicken.) Was ich habe sagen wollen: Es ist nicht damit getan, meine Herren, daß wir dasitzen und Churchill-Zigarren rauchen, um einander zu beweisen, was wir noch vertragen, oder daß andere sich schonen. Sie werden trotzdem älter von Jahr zu Jahr. Ziel unsrer Vereinigung ist und bleibt aber die Verjüngung der abendländischen Gesellschaft –
Usw.
Usw.
Usw.
8. 2. 1968
Stück aufgeführt, BIOGRAFIE EIN SPIEL, mit vierfachem Sieg der Bühne (Zürich, München, Frankfurt, Düsseldorf) über den Autor; er bestreitet die Fatalität, die Bühne bestätigt sie – spielend.
Freude
Die frohe Nachricht, daß es sich nachweislich nicht um Krebs handelt, gibt jemand nebenbei; sie betrifft nur ihn. Hingegen die Nachricht, daß jemand an Krebs gestorben ist oder in den nächsten Monaten sterben wird, scheint uns alle anzugehen, auch wenn wir gerade einen Anlaß zur Freude haben. Oft genügt schon eine Wetterlage, das Klima einer Stadt (Berlin zum Beispiel) oder das körperliche Wohlbefinden irgendwo, ein Bewußtsein von eigner Gegenwart, eine Speise, eine Begegnung auf der Straße, ein Brief usw., es gibt zahllose Anlässe zur privaten Freude. Warum notiere ich sie nicht? Die Freudengesänge, die uns überliefert sind, bezogen sich immer auf einen Anlaß zur außerpersönlichen Freude; solcher Anlaß scheint uns zu fehlen. Die Landung auf dem Mond oder Mars wird ihn nicht liefern. Die Revolutionäre versprechen Gerechtigkeit, nicht Freude. Nur die Drogen-Gläubigen sprechen von Freude; gemeint ist die Ekstase auf der Flucht aus einer Welt ohne frohe Botschaft.
FEBRUAR 1968
Enteignung und Entmachtung der wenigen, deren Freiheit auf Kosten des arbeitenden Volkes geht, kann ja nicht das Ziel sein, wenn sich daraus nicht Freiheit für das arbeitende Volkergibt. Die neuen Männer in Prag sprechen nüchtern, aber ihr Versuch ist kühn, Sozialismus zu entwickeln in der Richtung seines Versprechens. Ob ihnen das Gelingen gegönnt wird? Zu vermuten, daß dieser Versuch nichts anderes bedeute als eine reuige Rückkehr in den Kapitalismus, wäre ein Irrtum, jede Zustimmung in diesem Sinn zudem ein schlechter Dienst, nämlich genau die Auslegung, die die Feinde der Demokratisierung haben möchten, um sie unterdrücken zu können. Noch mehr von diesem falschen Beifall für Dubček (hier und in der Bundesrepublik) ist Denunziation – aber nicht ahnungslos; »ein Sozialismus mit menschlichem Gesicht«, das können sich unsere Macht-Inhaber nicht wünschen.
Um auf Chaplin zurückzukommen
»Jeder Rezensent tut jetzt, als verdurste er auf der Strecke, wenn ihm nicht Schritt für Schritt die gesellschaftliche Relevanz an die Lippen gereicht wird«, sagt einer. »Um auf Chaplin zurückzukommen«, sagt der andere. »Millionen und Millionen haben seine Filme gesehen, Clownerie aus Klassenbewußtsein, und was, meinen Sie, hat Chaplin erreicht?« sagt ein Dritter. »Sie halten sich für einen politischen Menschen, weil Sie nach dem politischen Effekt der Literatur fragen«, sagt jener, aber eigentlich ist alles schon besprochen. »Politik als literarische Mode«, sagt jemand. »Um auf Chaplin zurückzukommen«, sagt wieder der eine. »Oder auf Brecht«, sagt jemand. »Wenn Literatur sich darauf einläßt, daß sie sich durch gesellschaftliche Relevanz rechtfertigen soll, so hat sie schon verspielt; ihr Beitrag an die Gesellschaft ist die Irritation, daß es sie trotzdem gibt«, sagt der erste. »L'art pour l'art?«, fragtder andere. »Sie kommen jetzt mit dem bekannten Ausspruch von Jean-Paul Sartre, daß angesichts eines Hungerkindes und so weiter«, sagt jener. »Womit Sartre recht hat«, sagt dieser. »Gesetzt den Fall, Chaplin habe überhaupt nichts erreicht, obschon noch immer Millionen und Millionen vor seinen Filmen lachen«, sagt wieder der eine. »Ich halte mich für einen politischen Menschen, Sie haben recht, gerade deswegen wehre ich mich ja gegen Politik als literarische Mode«, sagt dieser. »Ich lese gerade Neruda«, sagt jemand. »Philosophie um der Philosophie willen, also das würden Sie
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