Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Englisch verstehe. Einer aus Uruguay; eine kleine Gruppe, die spanisch spricht, bleibt unter sich und scheint sehr lebhaft. Ungarn laden nach Ungarn ein, Bulgaren nach Bulgarien. Mitteilungen durch den Lautsprecher nur russisch. Sofija sorgt für Kontakt mit sowjetischen Schriftstellern; es sind Funktionäre. Die sowjetischen Schriftsteller, deren Namen uns geläufig sind, fehlen alle … Betriebsausflug; die Firma bittet um Begegnung von Mensch zu Mensch. Aber dazu fehlt's an gemeinsamer Sprache, es rotten sich Sprachgruppen zusammen. Der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes von Weimar, der nur deutsch spricht, ist trotzdem glücklich, daß er dabei ist; er gibt seine Kamera, damit jemand ihn fotografiert, wie er zwischen Indern sitzt, ich muß mich dazusetzen: Schriftsteller aus aller Welt.
Wodka-Nacht.
Die Wolga ist braun und langsam und breit, ihr Ufer kaum besiedelt, Felder, Ebene, Wälder, dann und wann eine Gruppe von Holzhäusern, ich genieße die Weite. Einmal ein Stausee, stundenlang sieht man kein Ufer; dann eine Schleuse, dann wieder Ufer, die menschenleer erscheinen, die flache Einsamkeit mit Kirchen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, viel Kirchen außer Betrieb, Land unter Himmel, das beinahe lautlose Gleiten auf dem braunen Wasser, Möwen, es ist nicht langweilig, wenn man auf Deck sitzt und schaut.
Gespräch:
Mihalkov (Gesamtauflage 75 Millionen) erklärt mir, wie der sowjetische Schriftsteller bezahlt wird. Ich verstehe: die sowjetische Literatur wird nicht von kapitalistischem Profit-Denken manipuliert; nicht die Nachfrage, sondern die Behörden bestimmen die Auflage. Im Westen, sagt er, ist der Schriftsteller immer abhängig vom Publikum; hier nicht. Mihalkov ist ein leutseliger Mann. Kein sowjetisches Kind wächst ohne seine Kinderbücher auf. Mihalkov schreibt auch für die Bühne und das Fernsehen. Und dazu noch ein Amt innezuhaben, wie er es innehat, ist natürlich eine Belastung, der sich der sowjetische Schriftsteller aber unterzieht; Dienst an der Gesellschaft. Mihalkov spricht deutsch. Das Papier ist immer noch zu knapp, um jedes Buch in großer Auflage herauszubringen. Der sowjetische Schriftsteller wird nach der Auflage bezahlt, die, wie gesagt, die Behörde bestimmt und zwar im voraus; es schadet ihm nicht, wenn das Publikum ein anderes Buch vorziehen würde. Ich verstehe. Mihalkov ist Vorsitzender des Schriftsteller-Verbandes von Moskau. Ich nicke viel … Es hat keinen Sinn, daß man widerspricht. Ich habe es versucht. Ich lobe nur Löbliches; das gibt es ja auch. Ich gebe keine Antworten, die ich nicht anderswo auch geben würde. Die Lüge beginnt im Verschweigen. Natürlich kann ich als Ausländer ohne weiteres sagen, was ich will; langsam gibt man es auf. Das Richtige ist das Offiziöse. Da es jeweils bekannt ist, gibt es nichts zu diskutieren. Am besten ist es, wenn man sich in Rußland einfach wohlfühlt. Ich lobe die Breite der Wolga; ich hüte mich, Erinnerungen an den Mississippi auszusprechen; Vergleiche verdrießen sie. Am Mittagstisch, als Gast zwischen Funktionäre gesetzt, lobe ich den grusinischen Wein, der sehr gut ist; ich zeige unablässig, daß ich mich wohlfühle. Ich werde nicht gefragt: Wie sehen Sie die Unruhen in Berlin, die Lage in Paris, die Zwischenfälle in Rom? Man ist nicht neugierig auf Information.Ich lobe die sowjetischen Gurken. Man kann auch die alten Ikonen loben. Wenn man ihnen nicht zuvorkommt, loben sie ihre Gurken selbst, und das ist auch mühsam. Natürlich verschweige ich, was ich vermisse; ich bin ja nicht gekommen, um zu kränken. Meine arme Sofija: sie verkürzt meine Fragen schon in der Übersetzung, um das Ungehörige zu mildern, und leidet vor ihren Vorgesetzten wie eine Mutter mit einem tolpatschigen Kind. Wer dann auf meine Frage antwortet, spielt kaum eine Rolle; sie widersprechen einander nie. Sie kennen Kritik nur als Kritik am Westen, diese ist hemmungslos und einfach, unbekümmert um Tatsachen; Kritik an sowjetischen Verhältnissen steht niemand zu – sie üben sie selbst nicht, die Funktionäre jedenfalls nicht.
PLENUM auf Deck:
Man sitzt mit Kopfhörern; Möwen; jeder Redner sagt dasselbe über Maxim Gorki, die Übersetzung aus dreizehn Sprachen erübrigt sich, Maxim Gorki als proletarischer Schriftsteller, Meister des sozialistischen Realismus, nach und nach verstehe ich's (ohne Kopfhörer) auf Spanisch, Rumänisch, Portugiesisch, Finnisch, sogar wenn ich nicht einmal errate, welche Sprache. Maxim Gorki und
Weitere Kostenlose Bücher