Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
sich, was er außer Bier eigentlich erwartet. Sieht er nachher in der Toilette, die Hände trocknend, sich zufällig im Spiegel, so kann er's verstehen und legt seine Münze in den Teller …
Wenn eine Frau (Schauspielerin) von einem Mann (Regisseur) sagt, er sei Gaga: – der Mann hat kein Gegenwort dazu. (Ziege oder Hexe ist kein Gegenwort, insofern es auch junge Ziegen und junge Hexen gibt.) Der Gaga-Begriff als Quittung dafür, daß er die Frau nur als Geschlechtswesen bestimmt hat, und als solches urteilt sie jetzt; zu Recht.
Der Gezeichnete unterläßt es bereits, seiner Tochter einen Kuß zu geben, oder er ironisiert den Kuß; ebenso scheut er sich gegenüber jungen Frauen, wenn der gesellige Anlaß (Geburtstag, Silvester usw.) eigentlich zu einem Kuß berechtigen würde. Er empfindet seine Lippen als Zumutung. Ergibt es sich bei solchem Anlaß, daß jüngere Frauen auch ihm wie allen andern einen arglosen Kuß geben, so erkennt der Gezeichnete sich an seiner Betroffenheit –
Fälle von Greisen-Charme – es kommt vor, daß ein jüngerer Mann dabei eifersüchtig wird, obschon er weiß, was er nicht zu befürchten hat; es genügt dem Gezeichneten schon, daß der jüngere Mann eifersüchtig wird.
Indem er entdeckt, daß er jetzt, da er Versagen zu fürchten hat, für Frauen attraktiver wird als bisher, entdeckt der Vor-Gezeichnete seinen bisherigen Irrtum: er hielt sich für einen Frauenkenner – dabei unterstellte er den Frauen immer nur die Erwartung, die er meinte erfüllen zu können, und ahnt jetzt, was sie noch alles von einem Mann erwarten, d.h. was er den Frauen schuldig geblieben ist; allein diese Ahnung macht ihn attraktiver.
Der Gezeichnete als Frauenkenner … Indem er sich in Gesellschaft nicht mehr als Mann erlebt, sondern lediglich als Teilnehmer am Gespräch, kommt der Gezeichnete öfter zur Ansicht, daß die meisten Frauen für das Gespräch nicht nur überflüssig sind, sondern daß sie ein ergiebiges Gespräch sogar verhindern; er zieht Männer-Gesellschaft (Klub, Stammtisch, Fachmannschaft usw.) vor. Bewahrt er sich die geistige Frische, so erkennt sich der Gezeichnete daran, daß die Jüngeren über alles sprechen mit ihm, ausgenommen das eine. Ihre Diskretion wird perfekt: dazu möchte man von ihm nichts vernehmen.
Im Taxi mit einer jungen Frau hütet er sich zwar, unter irgendeinem Vorwand plötzlich seine Hand auf ihren Arm zu legen oder auf ihre Schulter. Er tut gut daran. Daß er sich hütet, heißt aber: er denkt daran. Daß er daran denkt, macht ihn unfrei. Spürt sie es, so rückt sie, obschon der Gezeichnete sich hüten wird, höflich zur Seite. Der Gezeichnete ist insofern frei, als er tatsächlich nicht verliebt ist; er findet die Person nur sehenswert. Sein Bewußtsein, daß er ein ungenügender Bettgenosse wäre, irritiert ihn, gerade weil keinerlei Anlaß zu solchen Voraussichten besteht. Gibt sie ihm einen Blick, so ist der Gezeichnete verlegen: wie ein ertappter Hochstapler. Er denkt immer schon ans Bett. Dabei genügt es ihm eigentlich, daß man im Taxi sitzt. Er weiß: seine Hand würde sie nicht elektrisieren. Auch für ihn (so stellt er fest, indem er zum Fenster hinausblickt) ist es nicht unumgänglich. (Mittleres Stadium.) Er ist froh, wenn diese Taxi-Fahrt zu Ende ist … Noch vor kurzem hat der Gezeichnete es für unumgänglich gehalten, seine Hand auf ihre Schulter zu legen; es ist sogar vorgekommen, daß dann ihr Haar plötzlich an seiner Brust lag,wobei er die Erfahrung machte: in der Berührung zerfällt ihm die Erwartung. (Frühes Stadium.) Später hütet sich der Gezeichnete auch vor dieser Erfahrung nicht mehr. (Letztes Stadium: man sollte ihm die Pfoten auf den Rücken binden.)
Senilität feit nicht vor Hörigkeit.
Verliebte kommen ihm komisch vor.
Wenn er sich an eine bestimmte Mann-Frau-Geschichte erinnert: Wohnung, Landschaft, Wetter, Jahreszeit, eine bestimmte Speise, ihre Kleidung schon weniger, ihr Körper nur allgemein – der Gezeichnete ertappt sich, daß er sich vor allem an die Umstände erinnert, oft sehr genau: an die Holzfäller, die das Paar überrascht haben, und an die genaue Stelle im Wald … Der Rest ist Sage.
21. 8. 1968
Der Rucksack ist gepackt, der Weißwein gekühlt, alles bereit für die Wanderung. Unser Verhalten erinnert mich an einen andern Tag, der auch sofort als historischer Tag zu erkennen war: Einmarsch von Hitler in die Tschechoslowakei. Jene Nachricht erreichte einen
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