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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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bleibt Politik zuweilen das letzte Ressort, wo einer sich überlegen fühltgerade als Gezeichneter. Es verführt ihn kaum noch eine Spontaneität; das verkalkte Hirn ist kaum zu irritieren; seine politischen Entschlüsse fallen ihm leicht nicht aus Unbesonnenheit, sondern aus Verkalkung; er funktioniert wie ein Apparat; weder ist er ins Risiko verliebt, noch fürchtet er ein Risiko; er hat schon so manchen Fehlentscheid überlebt; der Schwund an Einbildungskraft erlaubt ihm ein sachliches Erwägen ohne Entsetzen vor den Folgen, er kann das Leben von Leuten nicht so wichtig finden, nicht ausschlaggebend, er selber hat kaum noch Leben zu verlieren und eignet sich immer mehr als Staatsoberhaupt. (Gerontokratie.)
     
    Greise als Staatsoberhäupter stehen unter dem Alter-Tabu; wissen die Untertanen aus eigner Erfahrung, was Altern mit sich bringt, so beziehen sie dieses sichere Wissen nie auf die Staatsoberhäupter.
     
    Im Gegensatz zum Arbeiter, dessen einziges Vermögen, seine Arbeitskraft, aus physiologischen Gründen schwindet; im Gegensatz zum Intellektuellen, der die Regression um so früher wahrnimmt, je intelligenter er ist; im Gegensatz zum Künstler, der zu erkennen hat, daß jedes kreative Vermögen offenbar mit Hormonen zu tun hat, fürchtet sich der Politiker am wenigsten vor dem Altern; vermutlich liegt es im Wesen der politischen Macht, daß sie, ohne kreativ zu sein, die größte Wirkung haben kann.
     
     
    JAPAN, NOVEMBER 1969
     
    Was mache ich morgens um 5 Uhr auf einem Boulevard in Tokyo? Die kleinen Arbeiter mit gelben Helmen im Blitzschein der Schweißbrenner. Kein Obst. Die Versuchung, daß man Menschen, die kleiner sind, deswegen für naiv hält.
     
    Sie kichern, wenn ich sie anspreche, Marionetten mit Fleisch unter der weißen Schminke, Mandel-Augen, ich weiß nie, wohin sie blicken. Sie können ihre Handrücken wie knochenlos auch rückwärts biegen.
     
    Schnellbahn fährt mit 220 Stundenkilometer sanft; Reisfelder nach der Ernte, man bekommt einen Frottier-Lappen: dampfheiß, um sich Gesicht und Hände zu erfrischen – erfrischt stelle ich fest, daß das meiste, was mich zu Hause zu beschäftigen pflegt, belanglos ist.
     
    Diskussion in der Universität mit japanischen Studenten: »Vernichtung des Bestehenden«, »Wer nach einem Ziel fragt, macht keine Revolution«, inbegriffen Selbstvernichtung. 64 % der Studenten an dieser Universität kommen aus der Arbeiterklasse. Ein Agitator erklärt sich durch Metaphern: Wie Kaki-Frucht am winterlichen Kaki-Baum usw. Sie denken nicht in Begriffen, sondern in Bildern; antirational.
     
    Wenn man keine Schrift lesen kann: als habe man nicht gelebt. Es sieht immer wie ein Gedicht aus, dabei sind's Reklamen.
     
    Vorher immer das Ausziehen der Schuhe; die Straße bleibt draußen (wir sind Barbaren), Mahlzeit im Hocksitz. Sofort ein anderes Verhältnis zum Raum; man besetzt ihn und hat Anspruch auf Anmut. Zwei Geishas, die den niedrigen Tisch bereiten. Alles muß schön sein. Man ißt so nach und nach, man huldigt den Speisen; die beiden Geishas auf ihren Knien dazwischen so lautlos, daß niemand laut wird. Als nehme man die deutschen und englischen Vokabeln ebenfalls mit Stäbchen. Ein Brite, rothaarig und Poet, kann sich Rückkehr in die westliche Welt nicht mehr denken; er ist 40. Sie bieten nicht an, sie wachen nur über unsern Wunsch, HEI, sie nicken schon, wenn man sie anblickt, HEI, HEI, sie wischen jeden Tropfen vom Tisch und verbeugen sich dafür, HEI, in stiller Anmut. Später bereiten sie die Betten auf dem Boden; sie verschwinden lautlos hinter ihrer Verbeugung. Ich schlafe begeistert.
     
    Vorlesung aus dem Handbuch über Alter.
     
    Polizei in der City; Hundertschaften warten mit Schilden, Knüppel am Gurt, Gas-Pistole, Helm mit Visier aus Plexiglas. Ein schwerer Helikopter kreist über der GINZA-Avenue als Lärmschleuder mit Scheinwerfer, der die Jugend sucht. Geschäfte lassen Rolladen herunter. Hundertschaften im Laufschritt mit ihren blinkenden Schilden, Rauch aus der Untergrundbahn, Jugend ebenfalls mit Helmen und Stangen, snake-dance, vorerst nur fröhlich; dann Sirenen, Hundertschaften wieder im Laufschritt in der entgegengesetzten Richtung. Einer stolpert über seinen Schild. Knüppel auch gegen die Menge, die keine Partei ergreift. Molotow-Cocktails schaffen Räume. Fackelschein, Lautsprecher. Ich gerate in ein Warenhaus, MERRY CHRISTMAS, Kymono-Puppen unter deutschen Weihnachtsliedern; der Konsum geht weiter. Im Fernsehen (eine

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