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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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grad Geld brauche, aber ich will einfach wenig Geld brauchen. So wenig wie möglich.« Barbara: »Ich doch auch.« Verena: »Ich habe ihren Vater gefragt, was gegen das Gammeln spricht, und das frage ich auch Sie, Herr Frisch«, und nach meiner Antwort: »Und wenn ich in einem Sportwagen herumfahre und Kunstgeschichte lerne und heirate, das ist doch auch Parasitentum, dabei verkomme ich ja auch. Schließlich ist es mein Leben. Das sagen Sie auch. Ich glaube, in so einer Kommune lernt man sich wenigstens selber kennen.«
     
     
    29. 9. 1969
    Wie Landgrafen, die es noch nicht fassen, daß das Gottesgnadentum auch auf deutschem Boden irgendwann einmal abgeschafft worden ist: hochherrschaftlich in der Arroganz, daß nur ihresgleichen regieren kann, dann konsterniert vor der Nachricht, daß die Stallknechte tatsächlich ins Palais wollen, nachher gekränkt, daß die versuchte Bestechung nicht gelingt (Kiesinger bietet der FDP sechs Minister-Posten statt drei, die ihr allerhöchstens zukommen, und verzichtet auf Mehrheitswahlrecht, verspricht den Überläufern schon für die nächste Bundestagswahl, daß man ihnen die nötigen Wahl-Kreise schenken werde), schließlich das verlorene Lächeln: »die Sozialdemokratie hat sich an die Macht gemogelt«, »machtgeil«, »Regierung ohne Programm« usw.

Notizen zu einem Handbuch für Mitglieder
    Ist sein politisches Befinden von je her konservativ gewesen, so zeigt der Gezeichnete sich befriedigt, indem ihn das Weltgeschehen eigentlich nicht erschreckt; die täglichen Nachrichten bestätigen sein politisches Befinden: er hat sich von Entwicklungen nie viel versprochen. Äußert er sich zum Weltgeschehen, so keineswegs trostlos; sein Alter hat eine Aura von Weisheit. Er hat sich keine Illusionen gemacht; daher braucht er nicht anders zu denken als vor 40 oder 50 Jahren, als er jung war: insofern fühlt der Konservative sich länger jung als die Revolutionäre.
     
    Warum ein Greis, der sich das revolutionäre Pathos erhalten hat, bestenfalls liebenswert erscheint, aber nicht überzeugt: die Jüngeren rechnen nicht damit, daß ihre Sprechweise sich einmal, gemessen an ihrer Geschichte, als Pathos entlarvt. Man läßt in einer Versammlung, die Revolution diskutiert, solche Apostel-Köpfe besser nicht auftreten; ihr Auftritt wirkt erheiternd – lähmend durch die Demonstration, wie Sprechweisen sich verbrauchen.
     
    Eine gewisse Versuchung, liberal zu werden, ergibt sich für den Vor-Gezeichneten daraus, daß er, im Gegensatz zu den Jungen, bereits mit dem Bewußtsein seiner Irrtümer zu leben hat – er braucht aber dieser Versuchung nicht zu erliegen; je weniger er dieses Bewußtsein erträgt, um so eher drängt es manchen zur politischen Macht, die ihm die Unfehlbarkeit verschafft. Die großen Säuberer sind meistens Vor-Gezeichnete.
     
    In zahlreichen Fällen hat das politische Befinden sich ergeben aus der natürlichen Revolte gegen die Vater-Macht; ist der Vater begraben, so zeigt sich erst, wieweit dieses politischeBefinden tatsächlich der eignen Konstitution entspricht, d.h. wieweit es je ein politisches Befinden gewesen ist. Das Alter siebt.
     
    Wenn er sich zur Linken rechnet, ertappt der Gezeichnete sich dabei, daß die meisten Texte (Flugblätter, Broschüren, Manifeste, Schülerzeitungen usw.) ihn langweilen trotz Partei-Einverständnis; was ihn kein anderes Denken lehrt als jenes, das er auswendig kennt, empfindet er als hoffnungslos.
     
    Wenn ein Junger politisch von Zukunft spricht und wenn ein Vor-Gezeichneter politisch von Zukunft spricht: beim letzteren entsteht der Eindruck, daß ihn die Zukunft tatsächlich interessiert.
     
    Es gibt überhaupt weniger politisches Temperament, als die Demokratie es voraussetzt. Die meisten haben es für ein politisches Befinden gehalten, wenn sie sich, um gesellig zu sein, eines politischen Vokabulars bedienen; als Gezeichnete sind sie allenfalls von ihrem Leben enttäuscht, nicht aber politisch, nur privat.
     
    Ausgebeutete werden im Alter, obschon sie jetzt außer dem Altersheim nichts mehr zu fürchten haben, in ihrem politischen Befinden meistens nicht fortschrittlicher, im Gegenteil; wenn einer über die Ausbeutung, die er sein Leben lang erfahren hat, noch so flucht – trotzdem tönt es, als packe ihn bei der Kunde, daß diese Verhältnisse jetzt verändert werden sollen, zugleich eine Art von Neid.
     
    Was noch nicht für den Vor-Gezeichneten gilt, aber für den Gezeichneten: indem seine Lustfähigkeit schwindet,

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