Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
dreckig ging, kann leider nicht für Kabusch eintreten; es ging ihm dreckig auch in Paris, ganz dreckig. Wer für Kabusch eintritt, überzeugt nicht. Ich habe es wieder einmal versucht. In einer Gruppe, die noch Genossen braucht, schlage ich unter anderem (so viele gibt es ja nicht am Ort) auch Kabusch vor, und der diesen Vorschlag strikte ablehnt, geradezu wild, ist der junge Beschädiger; er sagt bloß: Kabusch?! Das genügt schon; auch Leute, die Kabusch nicht persönlich kennen, finden Kabusch unmöglich und erheben sofort ihre Hand gegen diesen Antrag. Natürlich weiß Kabusch nichts von dem Vorfall, als der junge Schriftsteller, ein liebenswerter Freund auch er, kurz darauf bei Kabusch auftaucht und sich erkundigt, ob denn sein Haus nicht wieder einmal für einen Monat frei wäre –
Usw.
Was macht Kabusch falsch?
ZÜRICH, DEZEMBER 1969
Im großen Haus eines Kunstsammlers (Rechtsanwalt, ungefähr 80facher Verwaltungsrat, Honorar-Konsul der Republik Südafrika, auch Mitglied des Verwaltungsratsausschusses der NEUEN SCHAUSPIEL AG ZÜRICH) findet ein Empfang zu Ehren von Varlin statt. High Society. Ein Herr v. Kastelberg wundert sich aufrichtig, als er auf der Tischkarte den Namen seiner jüngeren Nachbarin liest, sagt es auch offenherzig: das habe er aber nicht für möglich gehalten, nein, sie sehe ja nicht unglücklich aus, obschon sie mit einem Psychopathen verheiratet ist. Es beschäftigt ihn menschlich. Ob sie mit diesem Psychopathen lebe. Nachdem er etwas getrunken hat, geht er in sich und findet: dann könne ihr Mann aber kein Psychopath sein, wenn er so eine Frau hat, im Ernst, und das freue ihn jetzt. Um dieser Freude auch Ausdruck zu verleihen, bittet Herr v. Kastelberg, sie möge ihrem Mann, den er leider nicht kenne, diese Zigarre überreichen. Sie tut's am andern Tag. Ich rauche die Zigarre, HOYO DE MONTEREY, meine Marke.
Was hat die Linke in diesen Jahren versäumt? Was sie erreicht hat: eine Isolation der Intelligenz – das Bewußtsein ihrer Ohnmacht, solange sie mit dem Arbeiter nur umgeht wie mit einem Begriff.
1970
Kabusch II
Er ist kein Maler, kein Savonarola, kein Uhu mit Menschenlachen usw. Daran kann es nicht liegen. Er johlt nicht in einer besseren Gesellschaft und überhaupt nicht. Er trägt eine randlose Brille. Gitarre spielen auf einem Waschbrett, das kann er lassen. Was macht Kabusch trotzdem verkehrt? Ein belesener Mann, das muß man zugeben, und dabei nicht vorlaut; man muß ihn erst fragen, damit er spricht. Ob es denn auch stimmt, was Kabusch zu diesem oder jenem Thema weiß, bleibt allerdings fraglich, solange nicht irgend jemand dazu nickt, und das ist nicht immer der Fall; nicht immer ist jemand da, der auch einigermaßen Bescheid weiß. Dann läßt man dieses Thema. Er ist Bibliothekar. Neuerdings hat er einen Lehrauftrag an der Universität, was seine Bekannten etwas verwundert, aber man gönnt es ihm; offenbar braucht Kabusch solche Bestätigung.
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Was Kabusch (wer immer er ist) sich nicht leisten kann: Stolz. Dann wirkt es bloß, als sei er beleidigt, also peinlich.
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Unter besonderen Umständen vergißt er, daß er Kabusch ist; zum Beispiel hat er einmal eine Totenrede zu halten, da er den Verstorbenen gekannt hat wie kein andrer. Ein jüngerer Kollege sagt ihm nachher, seine Rede sei gar nicht peinlich gewesen, Ehrenwort, nicht im mindesten peinlich. Solcher Zuspruch erschreckt ihn am offenen Grab.
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Kabusch ist sein Spitzname als Schüler. Das Gerücht, seine Mutter sei beim Zirkus gewesen, ist nicht aus der Klasse zu bringen. Seine Anfälle von Jähzorn deswegen. Meint Kabusch vielleicht, er sei etwas Besonderes, weil seine Mutter beim Zirkus gewesen ist? Er merkt lange nicht, was Kabusch heißt. Zum Beispiel sorgt er für einen Fußball, einen aus Leder, ferner sorgt er für die Erlaubnis, die Wiese benutzen zu dürfen für das Ereignis des Jahres. Will er auch noch für gutes Wetter sorgen? Als die Klasse, der er mit Stolz angehört, die Mannschaft zusammenstellt, scheint es nur Kabusch zu verwundern, daß er weder als Torhüter noch als Stürmer gefragt ist; auch die andern Posten sind schon vergeben worden, während Kabusch, übrigens der einzige mit regelrechten Fußballschuhen, die Strafraumgrenze ausgemessen und mit Sägemehl sorgsam markiert hat. Vielleicht braucht man einen Ersatzmann? Man wird sehen. Wer bestimmt eigentlich? Eigentlich niemand; es ergibt sich so. Kabusch soll sich jetzt nicht
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