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Tagebuch aus der Hölle (German Edition)

Tagebuch aus der Hölle (German Edition)

Titel: Tagebuch aus der Hölle (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Thomas
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Kenntnis, was ich durch das Betätigen des Hebels auslöse, ich weiß noch nicht einmal, was in dieser Fabrik überhaupt hergestellt wird. Ich habe schon mehrere meiner Kollegen gefragt, aber sie scheinen in dieser Hinsicht ziemlich stur zu sein. Einer antwortete nur mit einem »Psst«, ein anderer mit: »Wen interessiert’s?«, und irgendjemand sagte: »Ich glaube, wir machen Puppen. Auf meinem Fließband liegen Augen, kleine Augen … sie könnten aus Glas sein, vielleicht aber auch nicht.« Wieder ein anderer flüsterte: »Wir halten den Schöpfer in Gang.« Irgendjemand hat mir aber erklärt, dass dieser spezielle Kollege den Verstand verloren hat.
    Wenigstens habe ich herausgefunden, worum es sich bei dem Staub in den Straßen handelt, der so häufig von den Pflastersteinen und Steinfliesen gekehrt wird. Ich kann in diesem Moment durch mein Fenster beobachten, wie er herabfällt – hell leuchtender Lavaregen aus dem Magma-Meer über der Stadt. Er trommelt gegen den Sims vor meinem Fenster und bildet sogar kleine Rinnsale und Pfützen, die jedoch schnell erkalten und zu grauer Asche verblassen. Zwischen den Pflastersteinen fließt orangefarbene Flüssigkeit, die aussieht wie ein glühendes Netz, wenn sie durch die Rinnsteine und schließlich in die Kanaldeckel strömt. Ich bin so froh, dass ich einen Platz gefunden habe, an dem ich bleiben kann, und dass ich das Glück hatte, einen Job zu finden. Ich bedaure die Menschen, die in den beengten kleinen Gassen schlafen oder in Zelten und anderen unzureichenden Unterschlüpfen hausen müssen. Tatsächlich kann ich, während ich dies schreibe, draußen jemanden fürchterlich schreien hören.
    Ich glaube, es war an Tag 47, als ich von der Arbeit nach Hause ging und sah, wie zwei Dämonen aus einer der Behausungen stürzten und einen Mann an den Armen mit sich zerrten. Beide Dämonen waren weiblich: Eine hatte eine kurze Ponyfrisur à la Louise Brooks – ich fand, dass sie ihr gleichzeitig seltsam gut stand und irgendwie absurd aussah –, während die andere ihr Haar zu einem einzelnen dicken Zopf geflochten trug. Beide sahen mich an, doch die Dämonin mit dem Zopf erwiderte meinen Blick etwas länger.
    Dann sah ich, dass es Chara war. Ich war mir sicher, dass sie mich ebenfalls erkannt hatte.
    Die beiden zogen den weinenden, brabbelnden Mann mit sich fort, während ich mich einer Ansammlung eingeschüchterter Nachbarn näherte, die den Vorfall beobachteten.
    »Was hat er getan?«, fragte ich.
    »Nichts, vermutlich«, antwortete jemand. »Manchmal suchen sie die Leute wahllos für die Folterfabriken aus.«
    »Warum?«
    Der Mann sah mich angstvoll an. »Weil das hier die Hölle ist, darum!«
    Ein Heulen lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf das Haus des Mannes, und ich sah, dass sich eine Frau an den Türrahmen klammerte und heftig schluchzte.
    »Das ist seine Frau«, klärte mich jemand anders auf.
    »Sind sie zusammen gestorben?«
    »Nein … sie haben sich hier in der Hölle kennengelernt.«
    Daraufhin habe ich mich wieder gefragt, wieso ich in der Hölle noch niemanden getroffen habe, den ich kenne … und ich meine nicht nur jemanden aus meiner Familie, wie etwa meinen Vater, der vor ein paar Jahren gestorben ist, oder meine Großeltern, Onkel, Tanten oder die verstorbenen Großeltern meiner Exfrau usw. Wenn irgendwann auch meine Frau stirbt und mal angenommen, sie kommt in den Himmel – was ich eigentlich bezweifle, da sie genau wie ich Agnostikerin war … aber vielleicht ist ihr neuer Freund ja Kirchgänger und kann ihre Seele noch retten –, werde ich ihr hier dann irgendwann über den Weg laufen? Die Hölle ist groß. Ich glaube, sie könnte sogar unendlich sein. Und selbst wenn ich sie eines Tages treffen sollte, könnte sie schließlich auch eine ältere Frau sein, die an einem Schlaganfall gestorben ist. Oder ein Alzheimer-Opfer, das sich noch nicht einmal an mich erinnern würde.
    Ich vermisse sie. Ich hasse sie. Mir ist klar, dass ich sie immer noch liebe.
    Ich habe eine Unterkunft. Ich habe etwas zu essen.
    Aber ich bin einsam.
    Ich habe Mitleid mit der Frau, die dabei zusehen musste, wie ihr Mann verschleppt wurde, um schreckliche Qualen zu erleiden, und ich hoffe, dass er bald zu ihr zurückkehren darf, obwohl ich Gerüchte gehört habe, dass manche Menschen nicht nur ein paar Tage, sondern mehrere Jahre in den Folterfabriken verbringen müssen.
    Chara hat dabei geholfen, ihn wegzuschaffen. Sie ist böse. Sie hat keine Seele. Sie ist der Feind.

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