Tagebuch aus der Hölle (German Edition)
noch immer weitaus größer. Aber trotzdem … oder war es doch nur reine Selbsttäuschung, dass ich aus meinem Inneren die weitaus größere Kraft verspürte? Dass Seine verblasste, während meine stetig weiterwuchs? Dass Er in dieser gebirgshohen Gestalt gefangen war, die nun langsam immer deutlicher wurde, wohingegen ich frei war – ein reines Geistwesen?
Die roten Planeten unter mir waren nun so weit entfernt, dass sie eher wie Nebel und nicht mehr wie Galaxien aussahen – Nebel, die in einem unglaublich lang gezogenen Augenblick in der Zeit hingen. In stillstehender Zeit.
Stillstehend wie die Fotografie eines ausbrechenden Vulkans, der rote Feuertropfen in alle Himmelsrichtungen versprüht. So war auch Gottes Haupt in der Zeit eingefroren. Und es war ebenso wie ein Vulkan explodiert. Gottes Haupt hatte sich wie eine Blüte geöffnet, aus der unzählige Pollen strömten. Sein Heiligenschein war eine Wolke aus Blut – eine in der Luft, in der Zeit festhängende Aurora Borealis aus Blut. Ich selbst hing hingegen nicht fest, ich bewegte mich, erhob mich immer weiter, höher als alles andere … Ich würde alles hinter mir lassen, unter mir, bis es so klein und so weit entfernt war, dass es für mich verloren war. Dann gäbe es auch dieses Licht nicht mehr, das mich umgab – vielleicht ein Blitz aus einer Gewehrmündung, ebenso in der Zeit verloren? Selbst Licht war ja schließlich ein Etwas . Ich würde jedoch auch das Licht wie einen Kokon ablegen. Dann gäbe es nur noch Dunkelheit und süßes Nichts: Dies war der einzige Himmel, nach dem ich mich sehnen, an den ich glauben, den ich erfinden konnte.
Endlich … endlich … nach all meinen Leiden auf Erden … nach all meinen Leiden in der Hölle – auch wenn ich nun wusste, dass sie nur den Bruchteil einer Mikrosekunde gedauert hatten, in einem Geist, der durch seine Auslöschung vollkommen unbeständig, ja, wahnsinnig geworden war – war ich frei. Ich war von Frieden erfüllt.
Im Nichts wurde ich wiedergeboren. Ich war der Phönix des Vergessens.
Ich war der flüchtige Gedanke, die fliehende Seele eines suizidgefährdeten Gottes.
… Als ich jedoch wieder erwachte, starrte ich nur auf einige Risse in der Gipsdecke, die furchtbar real und irdisch-banal aussahen. Es war nur eine Illusion gewesen, dass all dies nur eine Illusion war. Nur ein Traum, dass all dies nur ein Traum war. Oder, besser gesagt, war die Zimmerdecke tatsächlich eine Illusion. Aber eine Illusion, die mich vor der Illusion des Lavaregens schützen würde. Auch der Hunger, der in meinem Magen gurgelte, war nur eine Illusion, aber trotzdem musste ich nun aufstehen, mein illusionäres Brot kauen und meinen halluzinatorischen Tee trinken.
Mein Kopf hat sich nach diesem Gewehrschuss nie mehr ganz regeneriert, jedenfalls nicht wirklich. Trotzdem hob ich ihn von meinem Kissen, um zu frühstücken und diese Worte niederzuschreiben.
Vierundsechzigster Tag
Ich habe dieses Virus oder diese Grippe nun schon seit mehreren Tagen. Es begann mit einer Erkältung, aber jetzt fühle ich mich fiebrig und schwindelig. An der Nasenwurzel und hinter einem meiner Augen verspüre ich einen intensiven, geballten Schmerz, ganz ähnlich wie bei Sinus-Kopfschmerzen. Seit meiner Ankunft in der Hölle habe ich immer wieder Menschen mit Ausschlägen und Wunden gesehen … Menschen, die niesten und schnieften, Schleim husteten oder sich auf offener Straße übergaben. Sind auch unsere Erkrankungen nur eingebildet, nur reine Illusion – in gewissem Sinne also psychosomatisch? Sind wir alle Hypochonder, in die Irre geführt, zu unseren Krankheiten getrieben? Oder erschafft der Schöpfer vielleicht auch dämonische Mikroorganismen – genauso, wie er diese fleischfressenden Krebse und in der Luft schwimmenden Aale erschafft –, um uns auch von innen heraus zu quälen?
Letzte Nacht hatte ich einen Fiebertraum, der von einem Gemälde aus dem 15. Jahrhundert inspiriert war, das ich aus einem der Kunstbücher meiner Eltern kenne und das mich als Junge ebenso erschreckte wie faszinierte. Es zeigt den Heiligen Antonius, gepeinigt von bunten, bizarren Dämonen, die an seinen Kleidern und seinen Haaren ziehen, ihn zerkratzen und Knüppel erheben, um auf ihn einzuschlagen. Ich stellte mir diese Dämonen im Inneren meines Körpers vor, wie sie meine Blutkörperchen zerfetzten, hineinbissen und sie in Stücke rissen. Wie mikroskopische Vampire.
So schlecht ich mich heute Abend auch fühlte, ich musste meinem
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