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Tagebuch aus der Hölle (German Edition)

Tagebuch aus der Hölle (German Edition)

Titel: Tagebuch aus der Hölle (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Thomas
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klaustrophobischen Zimmer einfach mal für eine Weile entfliehen, und darum schleppte ich meine armselige Hülle in ein Café, das ich neulich auf einem meiner Spaziergänge entdeckt habe. Es trägt den schlichten Namen »Blue«. Ich schätze, jeder Laden, der sich in Oblivion »Hellishly Good«, »Devil’s Food« oder irgendetwas ähnlich Pfiffiges nennen würde, würde schon bald von einer sehr humorlosen Meute auseinandergenommen.
    Das Café besteht aus einem einzigen großen, düsteren Raum mit niedriger Decke, der fast ausschließlich von Gasflammen beleuchtet wird, die in nach oben offenen Glaskugeln brennen, die in die rauen Steinwände eingelassen sind. Das geruchlose, zischende Gas ist blau … daher auch der irgendwie wässrige Schimmer im ganzen Raum – und der Name des Etablissements.
    Ich habe gehört, dass es in Oblivion geheime Orte gibt – illegale Kneipen –, in denen man Fusel und Selbstgebrannten kaufen kann, oder wie immer sie das halbgiftige Gebräu auch nennen mögen, das sie in den Schwarzmarktbrennereien zusammenpanschen. Außerdem habe ich gehört, dass man in Oblivion ganz gut an Drogen kommen soll, aber die waren auch zu Lebzeiten eigentlich nie wirklich mein Ding. Da sich das Blue jedoch gut sichtbar direkt an der Straße befindet, geht es derartige Risiken nicht ein. Es gibt auch Orte, an denen man Steaks kaufen kann, die von den Tieren stammen, die den Neandertalern und anderen Völkern zur Verfügung stehen, also kein Menschenfleisch sind. Wer jedoch dabei erwischt wird, wie er dieses Fleisch isst oder verkauft – das ja nicht für unseresgleichen bestimmt ist, die wir die Gelegenheit hatten, uns vom einzigen Kind des Schöpfers erleuchten zu lassen –, kann sich auf eine harte Strafe gefasst machen. Bei lebendigem Leib den Pavian-Dämonen zum Fraß vorgeworfen zu werden, ist, wie ich höre, eine ganz typische Antwort darauf.
    Im Blue verspeisen die Gäste daher menschliche Fleischgerichte – ich allerdings nicht, denn ich habe diesem Drang noch immer nicht nachgegeben. Ich hoffe, dass ich es auch niemals tun werde. Zu trinken gibt es kühles Wasser, das Oblivion über unterirdische Rohrleitungen von außerhalb der Stadtgrenzen erreicht, wie man mir erklärte. In Oblivion selbst regnet es nur Lava, kein Wasser, weil es hier keine Wolken gibt, die den brennenden Himmel bedecken. Außerdem steht ein kunstvoll zusammengebrautes Kaffee-Imitat auf der Karte, das beinahe so köstlich ist wie der schlimmste koffeinfreie Kaffee, den ich je getrunken habe: wässrig, schwach und bitter, aber wenigstens heiß und schwarz. Ein entschieden größerer Erfolg ist der heiße Apfelglühwein, der so ähnlich schmeckt wie das Instantgetränk, das ich zu Lebzeiten gerne gekauft habe. Er kommt zwar nicht einmal annähernd an echten Apfelglühwein heran, ist aus nostalgischer Sicht aber vollkommen ausreichend. Als ich heute Abend über meinen kleinen, klebrigen Tisch gebeugt in einer höhlenartigen, steinigen Ecke des Cafés saß, mir eine Tasse davon gönnte und mir sein aromatischer Duft in die Nase stieg, hatte ich beinahe das Gefühl, er würde meine Nebenhöhlen reinigen.
    Als ich das erste Mal hier war, habe ich zwei Musiker gesehen, die auf einem winzigen Stückchen Bühne saßen und auf ihren liebevoll gefertigten Lauten spielten. Einer der anderen Gäste erzählte mir, die Musiker seien schon vor Jahrhunderten gestorben. Während sie spielten, sah ich, dass die Frau am Nebentisch leise weinte.
    Heute Abend waren keine Musiker da. Ich hatte gehofft, einen der Jazzkünstler zu sehen, von denen ich gehört hatte. Aber so begnügte ich mich eben damit, an meinem Salat zu knabbern, an meinem Drink zu nippen und die Unterhaltungen rund um mich zu belauschen. Die Nähe anderer Menschen, ihr Lachen und die Atmosphäre der Beinahe-Normalität spendeten mir Trost … ich hatte jedoch nicht das Bedürfnis, mit irgendeinem dieser Menschen näher in Kontakt zu treten. Bereits zu Lebzeiten war ich zwar stets reserviert und introvertiert gewesen – keine ungewöhnlichen Eigenschaften für einen Schriftsteller –, aber hier hat sich das noch verstärkt. Ich bin noch immer traumatisiert. Meine Seele betäubt und taumelnd, auch noch nach zwei Monaten in der Ewigkeit. Bei der Arbeit widerstehe ich den Bemühungen diverser Kollegen, die mir ihre Freundschaft aufdrängen wollen. Was das angeht, bin ich jedoch nicht allein: Laute, lachende Typen sind hier definitiv in der Minderheit. Viele von uns schlurfen

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