Tagebuch der arabischen Revolution (German Edition)
in die Arme zu nehmen. Es ist wie ein Therapierausch.
Den Glückstrip wieder erleben
Man wird den Eindruck nicht los, dass viele immer wieder, jeden Tag, auf den Platz kommen, um diesen Glückstrip zu erleben, der mit einem verwunderten „Ach, dir ging’s auch so schlecht“ beginnt und mit dem enthusiastischen Ausruf „Stürzt Mubarak! Nieder mit dem Regime!“ endet. Die Militärführung, der eigentliche Königsmacher im Land, sieht sich das alles verwundert an. Für sie geht das wahrscheinlich alles ein bisschen zu schnell, um es begreifen zu können. Aber da geht es ihnen wie den Journalisten.
Auch mit der neuen Diskussionskultur kommt man nicht mehr mit. „Ich verstehe nicht, warum das Militär so lange zusieht und nicht Mubarak mitsamt seinem Stuhl ins Flugzeug setzt.“ Der Mann, der bei der Fernsehstation anrief, um das zu sagen, ist kein Geringerer als ein hoher Offizier des ägyptischen Militärgeheimdienstes. Da ist er wieder, der Impuls, den man in den letzten Tagen so oft hatte: dass man sich vor Staunen ein wenig kaltes Nilwasser ins Gesicht schütten möchte.
ORF ZIB 1, 31.1.2011, 19:30
ORF: Das ägyptische Militär hat vor kurzem wissen lassen, es werde keine Gewalt gegen Ägypter anwenden – die Polizei hat das letzte Woche sehr wohl getan, sie ist seit heute auch wieder im Einsatz. Wie verhält sich die Polizei?
Karim El-Gawhary: Die Polizei hat die Order, von den Protesten fernzubleiben und nur für Sicherheit zu sorgen und den Verkehr zu regeln. Ich habe heute eine interessante Szene erlebt, als die Verkehrspolizisten ihre Arbeit weiterführen wollten, aber von den Volkskomitees, die in den letzten drei Tagen den Verkehr geregelt hatten, die Antwort bekamen: „Nein, nein, wir brauchen euch jetzt nicht mehr, wir haben in den letzten drei Tagen gelernt, wie man den Verkehr regelt.“ Der Polizist stand da und sagte: „Aber ich hab’ das hier doch seit drei Jahren gemacht.“ Und die Jugendlichen haben ihn weggeschickt und sagten: „Nein, nein, wir brauchen niemanden, der hier für uns den Verkehr regelt, wir schaffen das ganz allein.“
ORF: Die Protestbewegung scheint größer zu werden – morgen wird es einen Marsch der Millionen und den Generalstreik geben: Muss Mubarak gehen, damit diese Proteste ein Ende haben, oder gibt es noch eine andere Alternative?
Karim El-Gawhary: Mubarak versucht noch alles Mögliche, er kündigt Reformen an, jetzt hat er seine Regierung ausgewechselt, heute hat er neue Minister bestellt, aber das interessiert hier im Land kaum jemanden. Alle kommen immer wieder mit der gleichen Forderung – „Mubarak muss weg!“. Doch die Forderungen gehen noch weiter. Viele Leute sagen, es reicht nicht, wenn Mubarak geht, es reicht auch nicht, wenn wir nur die Gesichter auswechseln, wir wollen das ganze System ändern. Viele bei der Demonstration heute auf dem Tahrir-Platz sagen: Wir brauchen eine Übergangsregierung von verschiedenen nationalen Persönlichkeiten, die sich zusammensetzen mit dem einzigen Ziel, neue, freie und faire Wahlen unter internationaler Aufsicht zu organisieren, damit man in Ägypten eine neue politische Landschaft schaffen kann, ein demokratisches Ägypten. Das Auswechseln des Präsidenten allein genügt den meisten Menschen nicht mehr.
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1.2.2011
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ORF, ZIB 13, 1.2.2011, 13:00
ORF: In Kairo begrüße ich jetzt wieder unseren Korrespondenten Karim El-Gawhary. Was tut sich denn derzeit auf den Straßen hinter Ihnen?
Karim El-Gawhary: Hier unten auf der Straße ziehen schon seit den frühen Morgenstunden die Leute zur Demonstration; auch die Armee und die Panzer sind aufgefahren, es herrscht aber eine vollkommen entspannte Atmosphäre. Die Soldaten sitzen in ihren Panzern, schauen den Leuten zu, manchmal winken sie den Leuten auch – es herrscht eher eine Volkfeststimmung. Aber der Tahrir-Platz füllt sich seit den Morgenstunden. Es ist sicher die größte Demonstration, die bisher in Kairo stattgefunden hat. Die Leute haben ja gesagt, sie wollen heute einen Eine-Million-Menschen-Marsch machen, am staatlichen Fernsehgebäude an der Stelle vorbei, wo ich gerade stehe, und dann zum Präsidentenpalast. Sie alle sagen: Heute ist der Tag der Entscheidung. Aber es gibt auch Leute, die sagen: Und wenn er heute nicht nachgibt, dann werden wir halt morgen zwei Millionen Leute sein und weitermachen – ich glaube, wir sind an einem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt.
ORF: Das Militär scheint ja eine entscheidende
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