Tagebuch eines Engels
Ewigkeit sah Theo wieder auf. »Mom? Kann ich dich in Australien besuchen?«
Das war seine Antwort. Margot sah ihn an und lächelte. »Klar.«
»Jeden Sommer?«
»Hmhm. In Australien ist aber Winter, wenn hier Sommer ist.«
»Darf ich ein Känguru als Haustier haben?«
»Vielleicht. Aber du kannst auf jeden Fall kommen und bleiben, so lange du willst.«
Natürlich hatte ich diese Entwicklung schon lange vorausgesehen. Ganz gleich, wie sehr ich das Licht und die Wärme Sydneys, die mir so unendlich guttaten, schätzte â ich verachtete mich selbst dafür, dass ich Theo zurücklieÃ. Es war nicht fair gewesen, ihn zwischen Toby und mir wählen zu lassen. Es war grausam und absolut egoistisch von mir gewesen, nicht einfach nur in einen anderen Stadtteil oder einen anderen Bundesstaat zu ziehen, sondern auf einen ganz anderen Kontinent.
Und doch war das nach allem, was ich durchgemacht hatte, nach der Reihe von Ereignissen, die mich fast kaputt gemacht hätten, mein Sicherheitsnetz.
Margot begann ihre eigene Verwandlung mit einer radikalen Veränderung ihrer Frisur und lieà sich einen kinnlangen, schokoladenbraunen Bob mit geschwungenen Spitzen verpassen. Sie löste Hugos Scheck ein, kaufte sich bei Saks jede Menge neuer Klamotten und machte einen Termin bei einem Schönheitschirurgen. Eine Lidstraffung sollte die Traurigkeit um ihre Augen herum entfernen. Lass dir so viele Tränensäcke entfernen, wie du willst, sagte ich. Die Traurigkeit steckt tief in deiner Seele.
Sie beschloss, die Wohnung noch ein, zwei Monate zu halten, nur für den Fall, dass ihr Plan nicht aufging. Ich sagte ihr, dass das nicht nötig sei, aber seit sie aus der Entzugsklinik zurück war, hatte sie nicht auf ein einziges meiner Worte reagiert. Als ich das Lied der Seelen sang â nur einmal, um zu sehen, ob zwischen uns noch eine Verbindung bestand â, zuckte sie nicht mal mit der Wimper. Sie setzte sich nicht auf, um sich umzusehen, sie erschauderte nicht aufgrund meiner gefühlten Gegenwart. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, wäre ich davon ausgegangen, dass sie ein völlig anderer Mensch war.
Am Abend bevor Margot nach Sydney flog, schaute Nan vorbei. Ich saà im Schneidersitz auf dem Dach des Gebäudes, betrachtete den auÃergewöhnlich glitzernden Sternenhimmel und fühlte mich völlig isoliert von allem und allen â von Gott, meiner Familie, mir selbst. Ich machte einen Schritt zur Seite, über die Kante des Daches hinweg. Vielleicht war das melodramatisch, aber es war ja nun beileibe kein Selbstmordversuch. Ich wollte nur sehen, ob ich mich wirklich von allem abgeschnitten, ob mein Handel mit Grogor die Regeln geändert hatte. Ich fiel etwa eine halbe Sekunde lang, und dann ⦠nichts. Ich blieb in der Luft hängen. Das beruhigte mich.
Nan hörte sich meine Nöte mit der üblichen stoischen Ruhe an. Als ich fertig war, sagte sie mir, ich solle mich umsehen. Was vorher noch nur vom Mondlicht erhellte schwarze Dunkelheit gewesen war, war jetzt eine Landschaft aus glühenden Dächern, auf denen schier endlose Reihen von Erzengeln saÃen. Die Engel glichen drei Meter groÃen lichtdurchfluteten Rubinen und sahen alle sehr entschlossen und zielstrebig aus. Um ihre Körper herum kreisten Flammenbänder verschiedener Breite und Stärke, hell wie Kometen. Einige waren mit Schwertern und Schilden bewaffnet, andere mit Pfeil und Bogen. Und sie alle beobachteten mich. Erinnerten mich an ihre Solidarität mit mir. Daran, dass sie auf mich aufpassten.
Nan hatte kein Wort gesagt, während ich ihr von Theo, Toby und Margot erzählte. Als ich meine übliche Frage stellte â Was soll ich jetzt tun? â, stand sie auf und blickte zu einer Wolke hinauf, die über den paillettenbesetzten Himmel zog wie ein schwarzes Schaf. »Was ist?«, fragte ich unsicher.
»Sieh doch mal genauer hin«, sagte sie.
Ich strengte die Augen an. Die Wolke zog langsam Richtung Mond, bis sie die weiÃe Himmelsscheibe verdeckte. Und dann kam eine Vision.
Wie eine Vorschau für einen Kinofilm bot die Vision nur kurze Einblicke in ein Ereignis: einzelne Szenen, von einem betrunkenen Cutter ungeschickt zusammengeschnitten, mit wirren Zeitsprüngen. Margot fuhr Auto und sang laut mit, was aus dem Radio plärrte. Dann ein Sprung in die Zukunft, in Zeitlupe durch die Luft fliegende Metallteile. Margots
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