Tagebuch eines Engels
beide kein Geld, keine Zukunft und auch nicht besonders viel gemeinsam. Aber als ich sie so sah, wie sie in Handtücher gewickelt im fünften Stock auf dem baufälligen Balkon mit Blick über das West Village saÃen, Kaffee tranken und die Zeitung lasen wie ein altes Ehepaar, dachte ich: Moment mal. Irgendwas ist da doch? Was ist mir beim ersten Mal entgangen?
Ob ich mich überflüssig fühlte? Na ja, sagen wir mal, es war ganz hilfreich, dass Gaia auch da war. Ich nahm mir Zeit, sie kennenzulernen. Wenn Toby und Margot einen ihrer intimeren Momente hatten â Momente, die ich für äuÃerst privat und heilig halte und deswegen respektieren und in Ehren halten wollte â, plauderten Gaia und ich über Tobys Kindheit. Gaia erzählte mir, dass sie an Gebärmutterhalskrebs gestorben war, als Toby vier Jahre alt war. Bis dahin war Tobys Tante Sarah sein Schutzengel gewesen. Ach, sagte ich überrascht. Ich dachte, Schutzengel wurden ganz exklusiv einem bestimmten Menschen zugeteilt. »Nein«, widersprach Gaia. »Nur solange wir gebraucht werden. Ein Mensch kann im Laufe seines Lebens zwanzig verschiedene Schutzengel haben. Und du wirst wahrscheinlich auch mehr als einen Menschen beschützen.«
Mir wurde ganz schwindelig beim Gedanken daran.
Toby hatte mir erzählt, dass er sich nur an eine einzige Sache mit seiner Mutter erinnern könne. Sie brachte ihm das Fahrradfahren bei. Er hatte Angst, hinzufallen, krallte sich am Lenker fest und rührte sich keinen Millimeter aus dem Hauseingang heraus. Er erinnerte sich daran, dass sie ihm sagte, er sollte nur bis zum Ende des Gartenweges fahren, und wenn er es bis dahin schaffen würde, dann könne er versuchen, bis ans Ende der StraÃe zu fahren, dann bis ans Ende des nächsten Blocks und so weiter. Als er am Ende des Gartenweges angekommen war â der ganze vier Meter lang war â, klatschte sie mit einer solchen Begeisterung Beifall, dass er sich auf den Weg zum anderen Ende der Stadt machte, bis sie ihn nach Hause trug. Er erzählte mir, dass er diese Taktik seither auch beim Schreiben angewandt hatte: Erst mal nur bis zum Ende einer Seite schreiben, dann bis ans Ende des Kapitels, und so weiter, bis er einen ganzen Roman geschrieben hatte. Das Bild von seiner Beifall klatschenden Mutter begleitete ihn dabei im Geiste.
Gaia lächelte. »WeiÃt du was? Ich kann mich auch an dieses Fahrradabenteuer erinnern.«
»Wirklich?«
»Ja. Das Lustige daran ist, Toby war damals nicht vier, sondern fünf. Und ich war schon tot. Als er Fahrrad fahren lernte, war ich sein Engel.«
Ich starrte sie an. »Bist du sicher?«
Sie nickte. »Toby hat mich im Laufe seines Lebens immer mal wieder sehen können. Er weià nicht, dass ich seine Mutter beziehungsweise sein Engel bin. Manchmal denkt er, ich sei jemand, den er aus Schulzeiten kennt, oder vielleicht eine ehemalige Nachbarin, oder einfach nur eine merkwürdige Frau, die ihm im Buchladen etwas zu dicht auf die Pelle rückt. Das ist selten, aber es kommt vor.«
Ich sah zu Toby und Margot, wie sie auf Tobys abgewetztem Ledersofa lagen, ihre Finger miteinander verflochten und wieder entflochten, und ich fragte mich nicht ganz ohne Hoffnung: Würde Toby mich jemals sehen? Und wenn ja, was dann? Würde ich mich bei ihm entschuldigen können? Würde ich jemals wiedergutmachen können, was ich ihm angetan habe?
Die Hochzeit fand in der »Kapelle der Blumen« in Las Vegas statt, neun wunderbare Monate nach jenem desaströsen ersten Date. Ich versuchte vergeblich, Margot zu einer Hochzeit zu Hause in England zu überreden, zu einer etwas aufwendigeren Veranstaltung, die Graham die einzigartige Gelegenheit gegeben hätte, seine Tochter ihrem künftigen Mann zu übergeben. Mein ganzes Leben lang habe ich mir Geschichten bezüglich dieser Hochzeit ausgedacht und sie ziemlich dick aufgetragen, um sie so auszuschmücken, wie ich sie im Nachhinein gerne gehabt hätte.
Nun lief es aber so, dass Toby eines Abends in dem irischen Pub, in dem Margot kellnerte, auftauchte. Er hatte sich um eine Stelle an der NYU beworben, und es sah ganz so aus, als würde er sie kriegen. Darum kaufte er sich einen 1964er Chevy und ein Geschenk für Margot: einen schlichten Diamantring.
Sie sah ihn an. »Ist das dein Ernst?«
Er zwinkerte.
»Der ist aber zu groà für meinen Ringfinger.«
Sein Lächeln erstarb.
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