Tagebuch Eines Vampirs 01. Im Zwielicht
sein, nur wieder sehen zu können. Sie blieb einen Moment stehen und sah sich dankbar um.
„Elena! Was machst du hier draußen?“ Bonnie und Meredith eilten auf sie zu. „Wo seid ihr die ganze Zeit gewesen?“ fragte sie scharf. Meredith zog eine Grimasse. „Wir konnten Shelby erst nicht finden. Und als wir ihn hatten, schlief er. Ehrlich“, fügte sie bei Elenas ungläubigem Blick hinzu. „Er schlief. Wir kriegten ihn nicht wach. Erst als die Lichter wieder angingen, hat er die Augen aufgemacht. Wir sind sofort zu dir zurückgelaufen. Aber was machst du hier?“ Elena zögerte. „Ich war es leid, zu warten“, antwortete sie so unbeschwert wie möglich. „Für heute abend haben wir genug getan, finde ich jedenfalls.“ „Und das aus deinem Mund“, sagte Bonnie spöttisch. Meredith schwieg, blickte Elena jedoch fragend an.
Elena war froh, daß Meredith nichts sagte, aber sie hatte das ungute Gefühl, daß die Freundin ihr nicht glaubte. Das ganze Wochenende über und während der folgenden Woche arbeitete Elena an den Plänen für das „Spukhaus“. Sie hatte wenig Zeit für Stefan, und das war frustrierend. Aber noch frustrierender war Stefan selbst. Sie konnte seine Leidenschaft für sie spüren, doch ebenso, daß er dagegen ankämpfte. Er weigerte sich nach wie vor, mit ihr ganz allein zu sein. In vieler Hinsicht war er ihr immer noch dasselbe Rätsel wie am ersten Tag. Er sprach nie von seiner Familie oder von seinem Leben vor Fell's Church.
Ihre Fragen umging er. Einmal hatte sie ihn gefragt, ob er Italien vermißte, ob es ihm leid tat, hierhergekommen zu sein.
Einen kurzen Moment hatten seine grünen Augen geleuchtet.
„Wie kann es mir leid tun, wenn du hier bist?“ hatte er geantwortet und sie so geküßt, daß sie alle weiteren Fragen vergaß. In diesem Augenblick hatte Elena erkannt, was es bedeutete, ganz und gar glücklich zu sein. Sie hatte auch seine Freude gefühlt, und als er sich zurückzog, hatte sein Gesicht gestrahlt. „Elena“, hatte er geflüstert. Und doch hatte er sie in den letzten Tagen immer seltener geküßt, und sie hatte erkennen müssen, wie die Kluft zwischen ihnen wieder größer wurde. An diesem Freitag hatten Elena und Meredith beschlossen, bei Bonnie zu übernachten. Der Himmel war grau, und es drohte zu regnen. Für Mitte Oktober war es ungewöhnlich kalt. Die Bäume, die die stille Straße säumten, hatten den Frost schon zu spüren bekommen. Die Blätter der Ahornbäume waren scharlachrot, während die der Ginkgo-Zierbäume hellgelb leuchteten. Bonnie begrüßte sie an der Tür
„Klar Schiff! Alle sind weg. Bis morgen nachmittag haben wir das ganze Haus für uns. Dann kommt meine Familie aus Leesburg zurück.“ Sie winkte sie herein und griff nach dem fetten Pekinesen, der rausdrängte. „Nein, Yangtze, bleib drinnen. Nein, hab ich gesagt.“ Aber es war zu spät. Yangtze war entwischt. Er rannte durch den Vorgarten zu einer einzelnen Birke und kläffte daran hoch. Die Speckrollen auf seinem Rücken wackelten. „Hinter wem ist er denn jetzt wieder her?“ Bonnie hielt sich die Ohren zu. „Sieht wie eine Krähe aus“, meinte Meredith schulterzuckend. Elena erstarrte. Sie ging ein paar Schritte um den Baum herum und schaute hoch zu dem goldenen Laub. Da saß sie. Dieselbe Krähe, die sie schon zweimal zuvor gesehen hatte. Vielleicht sogar dreimal, überlegte sie und dachte an den dunklen Schatten, der sich zwischen den Eichen auf dem Friedhof erhoben hatte. Während sie hochblickte, fühlte sie, wie sich ihr Magen vor Angst verkrampfte und ihre Hände eiskalt wurden. Der Vogel starrte sie wieder aus einem schwarzglänzenden, fast menschlichen Auge an. Dieses Auge... wo hatte sie schon einmal ein solches Auge gesehen? Plötzlich sprangen alle drei Mädchen einen Schritt zurück, als die Krähe heiser aufschrie, mit den Flügeln schlug und aus dem Laub auf sie zuflog. Im letzten Moment änderte sie die Richtung und stürzte sich statt dessen auf den kleinen Hund, der jetzt hysterisch bellte. Der Vogel glitt nur Millimeter an den fletschenden Hundezähnen vorbei, dann stieg er wieder in die Höhe und flog über das Haus, um in dem dichten Walnußbaum dahinter zu verschwinden. Die drei Mädchen blieben vor Erstaunen wie erstarrt stehen. Schließlich tauschten Bonnie und Meredith einen Blick. „Einen Moment lang dachte ich, der Vogel geht auf uns los“, sagte Bonnie und schleppte den wütend bellenden Pekinesen ins Haus.
„Ich auch“, erwiderte Elena
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