Tagebuch Eines Vampirs 01. Im Zwielicht
hob die Augenbrauen und lächelte wieder. „Tatsächlich?“ Elena bekam langsam Angst. Die Haare in ihrem Nacken sträubten sich.
„Jedenfalls sollten sie das sein“, sagte sie, so kalt sie konnte.
„Du bist sauer“, stellte er ernst fest. „Ich sagte, es tut mir leid, daß ich dir angst gemacht hab.“ „Du hast mir keine angst gemacht!“ fuhr sie ihn an. Sie kam sich in seiner Gegenwart irgendwie dumm vor. Wie ein Kind, das von jemandem bei Laune gehalten wird, der viel älter und welterfahrener ist. Das machte sie noch wütender. „Ich war nur ein wenig erschreckt“, fuhr sie fort. „Das ist auch kaum überraschend, wenn jemand so wie du in den Schatten herumschleicht.“ „Interessante Dinge passieren in der Dunkelheit... manchmal.“ Er lachte sie immer noch aus. Sie erkannte es an seinen Augen. Er war einen Schritt näher herangekommen, und sie konnte sehen, daß diese Augen ungewöhnlich waren. Sie waren fast schwarz, doch merkwürdige Lichter tanzten darin. Man schien in sie eintauchen zu können. Tiefer und tiefer... Elena fiel auf, daß sie ihn wie hypnotisiert anstarrte. Warum gingen die Neonröhren nicht wieder an? Sie wollte hier raus. Sie bewegte sich fort von ihm, so daß eine Sitzreihe zwischen ihnen war, und machte sich daran, den letzten Stapel Schnellhefter in den Karton zu legen. Vergiß die Arbeit für heute abend, dachte sie.
Nur weg! Aber das anhaltende Schweigen wurde ihr unbehaglich. Er stand nur reglos da und beobachtete sie.
Warum sagte er nichts? „Hast du nach jemandem gesucht?“ Sie war ärgerlich auf sich selbst, weil sie als erste gesprochen hatte. Er starrte sie immer noch an. Elena wand sich innerlich unter dem Blick seiner dunklen Augen. Sie schluckte. Die Augen auf ihre Lippen gerichtet, murmelte er: „Oh, ja.“ „Was?“
Elena hatte vergessen, was sie gefragt hatte. Brennende Röte stieg ihren Hals und die Wangen hoch. Sie fühlte sich plötzlich wie beschwipst. Wenn er doch nur aufhören würde, sie so anzusehen... „Ja, ich habe nach jemandem gesucht“, wiederholte er nicht lauter als vorher. Mit einem geschmeidigen Schritt trat er auf sie zu. Sie waren jetzt nur noch durch die Ecke eines Sitzes getrennt. Elena konnte nicht mehr atmen. Er stand so nahe. Nahe genug, um sie berühren zu können. Sie roch einen schwachen Duft. Eine Mischung aus Eau de Cologne und Leder. Seine Augen hielten sie immer noch gefangen. Sie konnte den Blick nicht abwenden. Diese Augen glichen keinen anderen. Sie waren schwarz wie der Himmel um Mitternacht, die Pupillen erweitert, wie die einer Katze. Sie füllten ihren ganzen Blickwinkel, als er den Kopf zu ihr hinunterbeugte. Elena fühlte, wie sich ihre Lider halb schlossen. Ihr Kopf lehnte sich zurück, und ihre Lippen öffneten sich unwillkürlich. Nein! Gerade noch rechtzeitig drehte sie das Gesicht zur Seite. Sie hatte das Gefühl, in letzter Sekunde vom Rand eines gähnenden Abgrunds zurückgesprungen zu sein. Was tue ich da? dachte sie zutiefst erschrocken. Ich wollte zulassen, daß er mich küßt. Ein total Fremder, den ich erst vor wenigen Minuten kennengelernt habe. Aber das war nicht das Schlimmste. Ein paar Momente lang war etwas Unvorstellbares geschehen. Für diese kurze Zeit hatte sie Stefan vergessen. Doch jetzt war er wieder in ihrem Herzen, und ihr Verlangen nach ihm war so groß, daß es fast schmerzte. Sie sehnte sich nach Stefan, nach der Sicherheit, die seine Umarmung bot. Elena schluckte hart. Ihr Atem ging schnell. Sie bemühte sich, ruhig und gefaßt zu sprechen. „Ich werde jetzt gehen. Wenn du jemanden suchst, siehst du dich besser woanders nach ihm um.“ Er schaute sie merkwürdig an, mit einem Gesichtsausdruck, den sie nicht verstand. Es war eine Mischung aus Ärger, widerwilligem Respekt und etwas anderem. Einem heißen, unbeherrschten Gefühl, das ihr irgendwie angst machte. Er wartete mit seiner Antwort, bis ihre Hand auf dem Türknopf lag, und seine Stimme war leise, aber ernst, ohne eine Spur von Belustigung.
„Vielleicht habe ich sie ja schon gefunden... Elena.“ Als sie sich nach ihm umdrehte, war in der Dunkelheit nichts mehr von ihm zu sehen.
11. KAPITEL
Elena stolperte den düsteren Flur entlang und versuchte, ihre Umgebung zu erkennen. Dann wurde die Welt plötzlich in grelles Licht getaucht, und sie fand sich bei den vertrauten Schließfächern wieder. Ihre Erleichterung war so groß, daß sie fast laut geschrien hätte. Sie hätte es nie für möglich gehalten, einmal so froh zu
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