Tagebuch Eines Vampirs 05. Rückkehr Bei Nacht
Mrs Flowers ließ die Reisetasche auf den Boden fallen. Meredith bearbeitete weiter das Brett.
»Essen!«, rief Bonnie dankbar.
»Ja, Sandwiches mit Truthahn und Tomate. Bedient euch. Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe, aber wenn man Umschläge gegen Schwellungen macht, lässt sich die Prozedur nicht beschleunigen«, erwiderte Mrs Flowers. »Ich erinnere mich, vor langer Zeit, da sagte mein jüngerer Bruder immer - oh, ach du liebe Güte!« Sie starrte die Stelle an, an der das Dielenbrett gelegen hatte. Ein Loch von beträchtlicher Größe war mit Hundertdollarscheinen gefüllt, säuberlich in Päckchen gestapelt, um die noch die Banderolen der Bank gewickelt waren.
»Wow«, sagte Bonnie. »Ich habe noch nie so viel Geld gesehen!«
»Ja.« Mrs Flowers drehte sich um und machte sich an Tassen mit Kakao und Sandwiches zu schaffen. Bonnie biss hungrig in ein Sandwich. »Früher haben die Leute Dinge einfach hinter den losen Ziegelstein im Kamin gelegt. Aber ich sehe, dass der junge Mann mehr Platz brauchte.«
»Danke für den Kakao und die Sandwiches«, sagte Meredith nach einigen Minuten, in denen sie über das Essen hergefallen war und gleichzeitig am Computer weiter gearbeitet hatte. »Aber wenn Sie uns wegen blauer Flecken und anderer Dinge behandeln wollen - hm, ich fürchte, wir können einfach nicht warten.«
»Oh, komm.« Mrs Flowers griff nach einer kleinen Kompresse, die nach Tee roch, wie Bonnie fand, und drückte sie auf Meredith' Nase. »Das wird die Schwellung binnen Minuten runterbringen. Und du, Bonnie - such dir eine für die Beule an deiner Stirn aus.«
Wieder trafen sich Bonnies und Meredith' Blicke. Bonnie sagte: »Nun, wenn es nur ein paar Minuten dauert - ich weiß ohnehin nicht, was wir als Nächstes tun sollen.« Sie besah sich die Kompressen und wählte für ihre Stirn eine runde aus, die nach Blumen und Moschus roch.
»Genau richtig«, meinte Mrs Flowers, ohne sich umzudrehen und hinzuschauen.
»Und die lange, dünne Kompresse ist natürlich für Meredith' Knöchel.«
Meredith trank ihren Kakao aus, dann berührte sie zaghaft eine der roten Schwielen. »Das ist in Ordnung ...«, begann sie, als Mrs Flowers sie unterbrach.
»Du wirst einen voll belastbaren Knöchel brauchen, wenn wir weggehen.«
»›Wenn wir weggehen?‹« Meredith starrte sie an.
»In den Alten Wald«, erklärte Mrs Flowers unschuldig. »Um nach euren Freunden zu suchen.«
Meredith wirkte entsetzt. »Wenn Elena und Matt im Alten Wald sind, dann gebe ich Ihnen recht: Wir müssen nach ihnen suchen. Aber Sie können nicht mitkommen, Mrs Flowers! Und wir wissen ohnehin nicht, wo sie sind.«
Mrs Flowers trank aus der Tasse mit Kakao, die sie in der Hand hielt, und blickte nachdenklich auf ein Fenster, das nicht mit Fensterläden verschlossen war. Einen Moment lang glaubte Meredith, sie habe sie nicht gehört oder beabsichtige, nicht zu antworten. Dann sagte sie langsam: »Ich schätze, ihr denkt alle, ich sei lediglich eine schrullige alte Frau, die nie da ist, wenn es Probleme gibt.«
»Das würden wir niemals denken«, rief Bonnie unerschütterlich. Und zugleich wurde ihr bewusst, dass sie während der letzten zwei Tage mehr über Mrs Flowers erfahren hatten als in den gesamten neun Monaten seit Stefanos Einzug hier. Davor hatte sie lediglich Geistergeschichten oder Gerüchte über die verrückte alte Dame in der Pension gehört. Solche Geschichten wurden erzählt, seit sie denken konnte.
Mrs Flowers lächelte. »Es ist nicht leicht, diese Macht zu haben und erleben zu müssen, dass einem nie geglaubt wird, wenn man sie benutzt. Und außerdem, ich lebe schon so lange - und das gefällt den Leuten nicht. Es macht ihnen Sorgen. Sie fangen an, Geistergeschichten oder Gerüchte zu erfinden ...«
Bonnie senkte unwillkürlich den Blick. Mrs Flowers lächelte wieder und nickte sanft. »Es war mir ein echtes Vergnügen, einen höflichen jungen Mann im Haus zu haben«, begann sie, während sie die lange Kompresse von dem Tablett nahm und sie um Meredith' Knöchel legte. »Natürlich musste ich meine Vorurteile überwinden. Die liebe M ama sagte immer, dass ich, wenn ich das Haus behielte, vielleicht Mieter aufnehmen müsste und dass ich Sorge tragen sollte, niemals Ausländer aufzunehmen. Und dann ist der junge Mann natürlich obendrein noch ein Vampir ...«
Bonnie hätte um ein Haar ihren Kakao quer durch den Raum gespuckt. Sie verschluckte sich, dann bekam sie einen Hustenanfall. Meredith hatte ihre
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