Tagebuch Eines Vampirs 06. Seelen Der Finsternis
Nähe.
Er tut weh! Er tut weh!
Dir tut etwas weh? Zeig es mir, sagte Elena prompt.
Nein! Er tut dir weh. Er könnte dich töten!
Scht. Scht. Sie versuchte, ihn in den Armen zu wiegen.
Wir müssen ihn dazu bringen, uns zu hören!
In Ordnung, erwiderte Elena. Sie fühlte sich tatsächlich seltsam und schwach. Aber sie drehte sich zusammen mit dem Kind um und rief stimmlos: Damon! Bitte! Elena sagt, du sollst aufhören!
Und ein Wunder geschah.
Sowohl sie als auch das Kind konnten es spüren: das Verebben des Energiestroms von Elena zu Damon.
Und dann holte das Wunder sie ironischerweise weg von dem Kind, mit dem sie so gern sprechen wollte.
Nein! Warte!, versuchte sie, Damon zu sagen, und klammerte sich mit aller Macht an die Hände des Kindes, aber sie wurde wie durch einen Hurrikan ins Bewusstsein zurückkatapultiert. Die Dunkelheit verebbte. Sie befand sich wieder in einem Raum, der viel zu hell war, und die eine Kerze darin flammte wie ein Polizeischeinwerfer auf, direkt auf sie gerichtet. Sie schloss die Augen und spürte die Wärme und die Schwere des körperlichen Damons in ihren Armen.
» Es tut mir leid! Elena, kannst du sprechen? Mir war nicht bewusst, wie viel…« Irgendetwas stimmte nicht mit Damons Stimme. Dann verstand sie. Damon hatte die Reißzähne noch nicht zurückgezogen.
War…? Hier stimmte gar nichts. Sie waren so glücklich gewesen, aber jetzt– jetzt fühlte ihr rechter Arm sich nass an.
Elena zog sich zur Gänze von Damon zurück und starrte auf ihre Arme, die rot waren und mit etwas beschmiert, das keine Farbe war.
Sie war noch immer zu erregt, um vernünftige Fragen stellen zu können. Sie glitt hinter Damon und zog ihm seine schwarze Lederjacke aus. In dem grellen Licht konnte sie sehen, dass sein schwarzes Seidenhemd– blutdurchtränkt war. Sie entblößte seinen Rücken und fand darauf teilweise verkrustete, zumeist aber stark blutende Striemen.
» Damon!« Ihre erste Reaktion war Entsetzen ohne einen Hauch von Schuldgefühlen oder Verständnis. » Was ist passiert? Bist du in einen Kampf geraten? Damon, sag es mir! «
Doch dann sah sie plötzlich eine Zahl vor sich. Seit ihrer frühesten Kindheit hatten sie Zahlen fasziniert. Tatsächlich hatte sie bereits vor ihrem zweiten Geburtstag gelernt, bis zehn zu zählen. Deshalb fiel es ihr jetzt auch nicht schwer, bis zu der Anzahl der unregelmäßigen tiefen, blutenden Schnittwunden auf Damons Rücken zu zählen.
Zehn.
Elena schaute auf ihre eigenen blutigen Arme und auf das im Licht golden schimmernde Kleid hinab, das jetzt ein Horrorkleid war, weil sein reines Milchweiß von leuchtendem Rot verunstaltet wurde.
Ein Rot, das ihr Blut hätte sein sollen. Ein Rot, das sich auf Damons Rücken wie Schwerthiebe angefühlt haben musste, als er die Hiebe und den Schmerz ihrer Disziplinierung an ihrer Stelle auf sich genommen hatte.
Und er hat mich den ganzen Weg bis nach Hause getragen. Der Gedanke kam wie aus dem Nichts. Ohne ein einziges Wort darüber. Ich hätte es nie erfahren…
Und die Wunden sind immer noch nicht verheilt. Werden sie jemals verheilen?
Das war der Moment, in dem sie begann, auf allen Frequenzen zu schreien.
Kapitel Neunundzwanzig
Jemand versuchte, ihr aus einem Glas etwas zu trinken einzuflößen. Elenas Geruchssinn war so scharf, dass sie bereits riechen konnte, was in dem Glas war– schwarzmagischer Wein. Und den wollte sie nicht! Nein! Sie spuckte ihn aus. Sie konnten sie nicht zum Trinken zwingen.
» Mon enfant, es ist zu deinem eigenen Wohl. Jetzt trink.« Elena wandte den Kopf ab. Sie spürte die Dunkelheit und den Hurrikan, die wieder heraufzogen, um sie zu verschlingen. Ja. Das war schon besser. Warum ließen sie sie nicht einfach in Ruhe?
In den Tiefen der Dunkelheit war ein kleiner Junge bei ihr. Sie erinnerte sich an ihn, aber nicht an seinen Namen. Sie streckte die Arme aus und er schmiegte sich an sie, und es schien, als seien seine Ketten weniger und leichter als beim letzten Mal… Wann war das gewesen? Irgendwann. Früher. Das war alles, woran sie sich erinnern konnte.
Geht es dir gut?, flüsterte sie dem Kind zu. Hier unten, tief im Herzen der Vereinigung, klang ein Flüstern wie ein Rufen.
Weine nicht. Keine Tränen, flehte er sie an, aber die Worte erinnerten sie an etwas, an das zu denken sie nicht ertragen konnte, und sie legte die Finger auf seine Lippen, um ihn sanft zum Schweigen zu bringen.
Laut, zu laut drang eine Stimme von außen zu ihnen vor. » Also, mon enfant, du
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