Tagebuch Eines Vampirs 06. Seelen Der Finsternis
zu ihrer Schulter fort. Ein innerer Schauder durchlief sie.
Sie versuchte, den Schleier als Barriere gegen ihn hochzuhalten, aber das Gewebe war zu durchsichtig. Er schenkte ihr noch immer sein strahlendstes Lächeln.
» Gibt es hier überhaupt einen Mond?«, fragte sie, um ihn abzulenken. Sie hatte Angst– Angst vor ihm– Angst vor sich selbst.
» Oh ja. Drei oder vier sogar, denke ich. Aber sie sind sehr klein, und natürlich geht die Sonne niemals unter, sodass du sie nicht so gut sehen kannst. Nicht sehr… romantisch.« Er lächelte sie abermals an, und Elena wandte den Blick ab.
Und da sah sie vor sich etwas, das ihre gesamte Aufmerksamkeit fesselte. In einer Nebenstraße war ein Karren umgekippt, und große Rollen mit Fell und Leder hatten sich daraus ergossen. Vor den Karren war eine dünne, hungrig aussehende alte Frau wie ein Tier gespannt, und sie lag auf dem Boden. Ein hochgewachsener, wütender Mann stand über ihr und ließ mit einer Peitsche Schläge auf ihren ungeschützten Körper niederprasseln.
Das Gesicht der Frau war Elena zugewandt. Es war zu einer Grimasse der Qual verzerrt, während sie erfolglos versuchte, sich zu schützen, indem sie sich zu einem Ball zusammenrollte, die Hände auf den Bauch gepresst. Von der Taille aufwärts war sie nackt, und die Peitsche zerriss ihr Fleisch, sodass ihr Körper vom Hals bis zu Taille mit einer dicken Blutschicht bedeckt war.
Elena spürte, wie die Macht ihrer Flügel in ihr aufstieg, ohne irgendeine Wirkung zu entfalten. Sie wünschte sich mit all ihrer zirkulierenden Lebenskraft, dass etwas– irgendetwas – sich von ihren Schultern lösen sollte, aber es nutzte nichts. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass sie noch Sklavenfesseln trug. Vielleicht war es auch Damon neben ihr, der sie mit machtvoller Stimme ermahnte, sich nicht einzumischen.
Für Elena waren seine Worte nichts weiter als Betonungen ihres Herzschlags, der in ihren Ohren dröhnte. Sie riss ihm das Seil scharf aus den Händen, dann sprang sie aus der Sänfte. Mit sechs oder sieben großen Schritten war sie neben dem Mann mit der Peitsche.
Er war ein Vampir und seine Zähne hatten sich beim Anblick des Blutes vor ihm verlängert, aber er hielt keinen Moment lang in seiner Gewaltorgie inne. Er war zu stark, als dass Elena mit ihm hätte fertig werden können, aber…
Mit einem weiteren Schritt stand Elena vor der Frau und breitete ihre Arme in einer Geste des Schutzes und des Trotzes aus. Seile baumelten von einem ihrer Handgelenke.
Der Sklavenbesitzer war alles andere als beeindruckt. Er holte bereits zum nächsten Peitschenhieb aus, und das Leder traf Elena auf der Wange und riss ihr gleichzeitig die dünne Sommerbluse auf, durchdrang ihr Mieder und versengte das Fleisch darunter. Sie keuchte auf, und im nächsten Moment schnitt sich die Peitsche durch ihre Jeans, als sei der Stoff Butter.
Unwillkürlich bildeten sich Tränen in Elenas Augen, aber sie ignorierte sie. Es war ihr gelungen, abgesehen von diesem ersten Aufkeuchen, keinen weiteren Laut von sich zu geben. Und sie stand immer noch genau dort, wo sie zu Anfang gestanden hatte. Elena konnte den Wind der Peitsche auf ihrer zerfetzten Bluse spüren, während ihr unberührter Schleier hinter ihr her wehte, als wolle er die arme Sklavin beschützen, die vor dem zerstörten Karren zusammengebrochen war.
Elena versuchte immer noch verzweifelt, irgendeine Art von Flügeln hervorzubringen. Sie wollte mit echten Waffen kämpfen und sie hatte diese Waffen, aber sie konnte sie nicht dazu zwingen, sie oder die arme Sklavin hinter ihr zu retten. Doch selbst ohne sie wusste Elena eines mit Bestimmtheit: Dieser Bastard vor ihr würde nicht noch einmal so hart mit seiner Sklavin umspringen, es sei denn, er zerfetzte Elena in Stücke.
Jemand blieb stehen, um zu gaffen, und jemand anderer kam aus einem Laden gelaufen. Als die Kinder, die ihrer Sänfte gefolgt waren, sie heulend umringten, bildete sich eine Menge von Schaulustigen.
Anscheinend war es eine Sache, einen Kaufmann zu sehen, der seine vertraute Sklavin schlug– die Leute hier sahen so etwas vermutlich beinahe täglich. Aber ein schönes, neues Mädchen zu sehen, dem die Kleider zerfetzt wurden, ein Mädchen mit Haaren wie goldene Seide unter einem goldweißen Schleier und mit Augen, die einige von ihnen vielleicht an einen fast vergessenen blauen Himmel erinnerten– das war etwas ganz anderes. Außerdem war das neue Mädchen offensichtlich eine barbarische Sklavin, die
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