Tagebuch Eines Vampirs 06. Seelen Der Finsternis
ihren Herrn gedemütigt hatte, indem sie ihm das Führseil aus den Händen gerissen hatte und jetzt mit ihrem flatternden, verhöhnten Schleier der Unantastbarkeit dastand.
Großartiges Straßentheater.
Und trotz alldem holte der Sklavenbesitzer zu einem weiteren Schlag aus, hob den Arm hoch und schickte sich an, all seine Kraft hineinzulegen. Einige Leute in der Menge keuchten auf, andere brachen in entrüstetes Gemurmel aus. Elenas neu geschärftes Gehör fing ihr Wispern auf. Ein solches Mädchen konnte unmöglich in die Elendsviertel gehören; es musste auf dem Weg ins Herz der Stadt sein. Allein die Aura des Mädchens war genug, um das zu beweisen. Tatsächlich konnte es mit diesem goldenen Haar und diesen lebhaft blauen Augen durchaus eine Wächterin von der Anderen Seite sein. Wer wusste das schon?
Der Hieb, zu dem der Sklavenbesitzer angesetzt hatte, traf niemals. Bevor die Peitsche auf ihr Ziel hätte niedersausen können, gab es einen schwarzen Blitz– pure Macht–, der die Menge auseinandersprengen ließ. Ein Vampir, seiner Erscheinung nach jung und angetan mit der Kleidung der Oberen Welt, der Erde, war zwischen das goldene Mädchen und den Sklavenbesitzer getreten– oder genauer gesagt ragte er über dem Sklavenbesitzer, der jetzt zurückwich, auf. Die wenigen Leute in der Menge, die das Mädchen nicht sofort in seinen Bann geschlagen hatte, spürten, wie ihre Herzen bei seinem Anblick zu hämmern begannen. Er war gewiss der Besitzer des Mädchens und jetzt würde er die Situation ins Lot bringen.
In diesem Moment erschienen Bonnie und Meredith auf dem Schauplatz. Sie lagen auf ihrer Sänfte, schicklich eingehüllt in ihre Schleier, Meredith in sternenbesetztem Mitternachtsblau und Bonnie in weichem blassem Grün. Sie hätten eine schöne Illustration für Tausendundeine Nacht abgegeben.
Aber sobald sie Damon und Elena sahen, sprangen sie höchst unschicklich von der Sänfte. Inzwischen war das Gedränge so groß, dass sie sich– gefesselt wie sie waren– mithilfe von Ellbogen und Knien einen Weg bahnen mussten. Aber binnen weniger Sekunden waren sie an Elenas Seite.
Als sie neben Elena standen, keuchte Meredith vor Entsetzen. Bonnie riss die Augen auf. Elena verstand, was sie sahen. Blut strömte aus der Schnittwunde über ihrem Wangenknochen, und ihre Bluse flatterte im Wind immer wieder auf, um ihr zerfetztes, blutiges Mieder zu enthüllen. Ein Bein ihrer Jeans färbte sich schnell rot. Aber zusammengerollt in Elenas Schatten lag eine weitaus bemitleidenswertere Gestalt. Und als Meredith Elenas duftigen Schleier anhob, um ihr zu helfen, ihre Bluse geschlossen zu halten, und sie wieder züchtig gewandet war, hob die Frau selbst den Kopf, um die drei Mädchen mit den Augen eines vernunftlosen, gehetzten Tieres anzusehen.
Sie hörten Damon leise sagen: » Dies wird mir Spaß machen«, während er den schweren Mann mit einer Hand in die Luft hob und sich dann wie eine Kobra auf seine Kehle stürzte. Es folgte ein grauenvoller Schrei, der überhaupt nicht mehr abbrechen wollte.
Niemand versuchte, sich einzumischen, und niemand versuchte, den Sklavenbesitzer anzufeuern, dass er kämpfen solle.
Elena ließ den Blick über die Gesichter in der Menge wandern und begriff, warum das so war. Sie und ihre Freundinnen hatten sich an Damon gewöhnt– jedenfalls so weit man sich an seine halbgezähmte Wildheit gewöhnen konnte. Aber diese Leute warfen zum ersten Mal einen Blick auf den ganz in Schwarz gekleideten jungen Mann, der von mittlerer Größe und schlankem Körperbau war und der seinen Mangel an Muskelmasse mit geschmeidiger, tödlicher Anmut wettmachte. Dieser Eindruck wurde durch die Gabe verstärkt, irgendwie den Raum um sich herum zu beherrschen, sodass er mühelos zum Brennpunkt eines jeden Bildes wurde– so wie ein schwarzer Panther vielleicht zum Brennpunkt wurde, wenn er träge durch eine bevölkerte Stadtstraße spazierte.
Selbst hier, wo Bedrohung und das pure Böse zum Alltag gehörten, verströmte dieser junge Mann eine Aura von Gefahr, die in den Leuten den Wunsch weckte, ihm nicht unter die Augen und erst recht nicht in die Quere zu kommen.
In der Zwischenzeit hielten alle drei Mädchen Ausschau nach irgendeiner Art von medizinischer Hilfe oder zumindest nach etwas Sauberem, mit dem sie die Blutungen stillen konnten. Nach etwa einer Minute wurde ihnen klar, dass Hilfe nicht so einfach vorbeikommen würde, daher wandte Elena sich an die Menge.
» Kennt irgendjemand einen
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