Tagebuch Eines Vampirs 06. Seelen Der Finsternis
Hier geschehen in jeder Minute des Tages Tragödien: unvorhersehbare, schreckliche, tödliche Tragödien. Ich will nicht, dass eine davon Elena widerfährt.«
Meredith sah ihn lange an, und ausnahmsweise einmal beriet sie sich nicht über Blickkontakt mit Elena, bevor sie eine sie betreffende Frage beantwortete. Sie sagte lediglich mit einer leisen Stimme, die trotzdem jeden Winkel des Raums erreichte: » Ich werde sie beschützen.« Aus ihrer Haltung und ihrem Tonfall konnte man beinahe den unausgesprochenen Zusatz: » Mit meinem Leben« hören– und es wirkte nicht einmal melodramatisch.
Damon ließ sie los, stolzierte zur Tür hinaus und verschwand ohne einen Blick zurück aus Elenas Gesichtsfeld. Aber seine Gedankenstimme erklang kristallklar in ihrem Kopf: Du wirst in Sicherheit sein, falls es irgendeine Möglichkeit gibt, dich zu retten. Ich schwöre es.
Falls es irgendeine Möglichkeit gab, sie zu retten. Wunderbar. Elena versuchte, ihr Gehirn wieder in Gang zu bringen.
Meredith und Bonnie sahen sie beide an. Elena holte tief Atem, für einen Moment automatisch in alte Zeiten zurückversetzt, als man von einem Mädchen, das gerade ein heißes Date gehabt hatte, einen langen Bericht erwarten konnte.
Aber alles, was Bonnie sagte, war: » Dein Gesicht– es sieht jetzt viel besser aus!«
» Ja«, erwiderte Elena, die die beiden Enden ihrer Bluse benutzte, um ein provisorisches Top um ihren Oberkörper zu knoten. » Mein Bein ist das Problem. Wir waren noch nicht– noch nicht fertig damit.«
Bonnie öffnete den Mund, schloss ihn jedoch entschieden wieder, was von ihr eine ähnlich heroische Geste war wie zuvor Meredith’ Versprechen gegenüber Damon. Als sie den Mund erneut öffnete, sagte sie: » Nimm meinen Schal und binde ihn um dein Bein. Wir können ihn seitlich falten und dann über der Wunde mit einer Schleife zusammenbinden. Auf diese Weise wird Druck auf die Verletzung ausgeübt.«
Meredith meinte: » Ich denke, Dr. Meggar ist mit Ulma fertig. Vielleicht kann er sich jetzt um dich kümmern.«
Im Hinterzimmer wusch der Arzt sich abermals die Hände, wobei er eine große Pumpe benutzte, um noch mehr Wasser in die Schale zu bekommen. Im Raum befand sich ein Stapel von Tüchern mit roten Flecken, und es lag ein Geruch in der Luft, den der Arzt dankenswerterweise mit Kräutern überlagert hatte. Außerdem saß in einem großen, bequem aussehenden Sessel eine Frau, die Elena nicht kannte.
Leiden und panische Angst veränderten eine Person, das wusste Elena, aber ihr war weder klar gewesen, in welchem Ausmaß sie jemanden verändern konnten– noch hätte sie gedacht, dass Erleichterung und Schmerzfreiheit ein Gesicht völlig anders erstrahlen ließen. Sie hatte eine Frau hergebracht, die sich zusammengekauert hatte, bis sie kaum größer war als ein Kind, und deren mageres, verwüstetes Gesicht, verzerrt von Qual und niemals nachlassender Furcht, beinahe wie die abstrakte Zeichnung von einer Koboldshexe ausgesehen hatte. Ihre Haut war von einem kränklichen Grau gewesen, und ihr Haar so dünn, dass es kaum ihren Kopf zu bedecken schien, während es wie Algenfäden herunterhing. Alles an ihr hatte geschrien, dass sie eine Sklavin war, von den eisernen Fesseln um ihre Handgelenke bis hin zu ihrer Nacktheit und dem vernarbten, blutüberströmten Körper und ihren bloßen, verhornten Füßen. Elena hätte nicht einmal sagen können, welche Farbe ihre Augen hatten, denn sie schienen genauso grau zu sein wie der Rest von ihr.
Jetzt stand Elena vor einer Frau, die vielleicht Anfang bis Mitte dreißig war. Sie hatte ein schmales, attraktives, irgendwie aristokratisches Gesicht mit einer starken Patriziernase, dunklen, intelligent aussehenden Augen und wunderschönen Brauen, die wie die Flügel eines fliegenden Vogels waren. Sie saß entspannt im Sessel, die Füße auf einen Hocker gelegt, und bürstete sich langsam das Haar, das dunkel war und hier und da graue Strähnen aufwies, die dem schlichten, dunkelblauen Hausmantel, den sie trug, eine gewisse Würde verliehen. Ihr Gesicht hatte zarte Fältchen, die ihm Charakter gaben, aber insgesamt verströmte sie eine Art sehnsüchtiger Zärtlichkeit, vielleicht wegen der leichten Wölbung ihres Unterleibs, auf den sie nun sanft eine Hand legte. Als sie das tat, erblühte ihr Gesicht in einer zarten Röte und ihr ganzes Wesen strahlte.
Eine Sekunde lang dachte Elena, dass dies die Ehefrau oder die Haushälterin des Arztes sein müsse, und sie fühlte sich
Weitere Kostenlose Bücher