Tagebuch eines Vampirs 8 - Jagd im Abendrot
drehte sich zu Stefano um, als sie an dem Haus vorbeika-
men. »Ms McCloskey muss gestorben oder in ein Pflegeheim gezogen
sein.« Stefano sah sie verständnislos an. »Sie hätte niemals zugelassen,
dass man ihr Haus in dieser Farbe streicht. Dort müssen jetzt andere
Leute leben«, erklärte sie mit einem leichten Schaudern.
»Was ist los?«, fragte Stefano. Er spürte sofort, dass etwas auf Elenas
Stimmung drückte.
»Nichts, es ist nur …« Elena versuchte zu lächeln, während sie sich eine
seidige Haarsträhne hinters Ohr strich. »Sie hat mir, als ich klein war, im-
mer Plätzchen geschenkt. Es ist eine seltsame Vorstellung, dass sie viel-
leicht eines natürlichen Todes gestorben ist, während wir fort waren.«
Stefano nickte, und sie gingen schweigend durch das kleine Stadtzen-
trum von Fell’s Church. Gerade wollte Elena ihn darauf aufmerksam
machen, dass ihr Lieblingscafé einer Drogerie hatte Platz machen müssen,
als sie etwas anderes noch mehr überraschte. Sie packte Stefano am Arm.
»Stefano. Sieh mal! «
Isobel Saitou und Jim Bryce kamen direkt auf sie zu.
»Isobel! Jim!«, rief Elena glücklich und rannte ihnen entgegen. Aber
Isobel verhielt sich seltsam steif und Jim sah sie nur neugierig an.
»Hm, hi?«, sagte Isobel zögerlich.
Elena hielt inne. Hoppla. Hatte sie Isobel in diesem Leben überhaupt
gekannt? Natürlich waren sie in die gleiche Schule gegangen. Jim hatte
sogar ein paar Dates mit Meredith gehabt, bevor er und Isobel ein Paar
wurden, aber Elena hatte ihn nie wirklich kennengelernt. War es
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tatsächlich möglich, dass sie noch nie mit der stillen, fleißigen Isobel Sait-
ou zu tun gehabt hatte, bevor die Kitsune in die Stadt gekommen waren?
Elenas Gedanken überschlugen sich. Sie suchte krampfhaft nach einer
Lösung, wie sie sich aus dieser Situation retten konnte, ohne komplett ver-
rückt zu wirken. Trotzdem stieg ein warmes Summen des Glücks in ihrer
Brust auf und hielt sie davon ab, das Problem allzu ernst zu nehmen. Iso-
bel ging es gut. Und dabei hatte sie unter den Kitsune so sehr gelitten: Sie
hatte sich auf schreckliche Weise gepierct und ihre eigene Zunge so übel
gespalten, dass sie nur noch leise nuschelnd sprechen konnte, selbst
nachdem sie sich von dem Bann der Kitsune erholt hatte. Schlimmer noch,
die Kitsune-Göttin selbst war die ganze Zeit über in Isobels Haus gewesen
und hatte sich als Isobels Großmutter ausgegeben.
Und der arme Jim … Von den Malach infiziert, hatte er sein eigenes
Fleisch gegessen. Doch nun war er hier, hochgewachsen, gut aussehend
und sorglos – wenn vielleicht auch etwas verwirrt.
Stefano lächelte breit, und dann begann Elena plötzlich zu kichern und
konnte gar nicht mehr aufhören. »Entschuldigung, Leute, ich bin einfach
… so froh darüber, vertraute Gesichter aus der Schule zu sehen. Ich muss
die gute alte Robert-Lee-High wohl echt vermissen. Wer hätte das
gedacht?«
Es war eine ziemlich lahme Erklärung, aber Isobel und Jim nickten und
lächelten. Jim räusperte sich unbeholfen und sagte: »Ja, es war ein richtig
gutes Jahr, was?«
Elena lachte erneut. Sie konnte einfach nicht anders. Ein richtig gutes
Jahr.
Sie plauderten einige Minuten, bevor Elena beiläufig fragte: »Wie geht
es deiner Großmutter, Isobel?«
Isobel sah sie verständnislos an. »Meiner Großmutter ?«, wiederholte
sie. »Du musst mich mit jemand anderem verwechseln. Meine beiden
Großmütter sind schon seit Jahren tot.«
»Oh, Entschuldigung, mein Fehler.« Elena verabschiedete sich und
schaffte es, sich gerade noch zu beherrschen, bis Isobel und Jim außer
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Hörweite waren. Dann packte sie Stefano an den Armen, zog ihn an sich
und gab ihm einen innigen Kuss. Sie empfanden beide das Gleiche: helle
Freude und Triumph.
»Wir haben es geschafft «, rief sie, nachdem sie ihre Lippen wieder von
Stefanos getrennt hatte. »Es geht ihnen gut! Und nicht nur ihnen.«
Geradezu feierlich blickte sie in seine smaragdgrünen Augen, die so ernst
und warm waren. »Wir haben etwas Wichtiges und Wunderbares
geschafft, nicht wahr?«
»Ja«, stimmte Stefano ihr zu. Aber es entging Elena nicht, dass dabei in
seiner Stimme etwas Hartes lag.
Schweigend gingen sie Hand in Hand weiter. Sie schlugen den Weg zum
Stadtrand ein, überquerten die Wickery Bridge und stiegen den Hügel zum
Friedhof hinauf. Auf dem alten Friedhof gingen sie an der zerstörten
Kirche vorbei, in der Catarina sich versteckt hatte,
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