Tagebuch eines Vampirs 8 - Jagd im Abendrot
Elena all die beklemmenden Gefühle beiseite, die diese fremde Ver-
gangenheit in ihr auslöste – sie würde sich daran gewöhnen müssen – und
eilte die Treppe hinunter. Bereit für ihre Zukunft.
Im Esszimmer schenkte Tante Judith gerade aus einem blauen Krug
Orangensaft ein, während Robert etwas Teig in das Waffeleisen löffelte.
Margaret kniete hinter ihrem Stuhl und ließ ihr Stoffkaninchen ein
angeregtes Gespräch mit einem Spielzeugtiger führen.
Eine Woge der Freude stieg in Elenas Brust auf, und sie umarmte Tante
Judith stürmisch und wirbelte sie herum. Der Orangensaft ergoss sich in
einem weiten Bogen auf den Boden.
»Elena!«, schimpfte Tante Judith, halb lachend. »Was ist los mit dir?«
»Nichts! Ich hab dich einfach lieb, Tante Judith«, rief sie und zog sie
noch fester an sich. »Ich habe dich wirklich lieb.«
»Oh«, antwortete Tante Judith mit einem sanften Ausdruck in den Au-
gen. »Oh, Elena, ich hab dich auch lieb.«
»Und was für ein wunderschöner Tag«, sagte Elena und drehte sich mit
einer Pirouette nach ihrer kleinen Schwester um. »Ein wunderbarer Tag,
um am Leben zu sein.« Sie küsste Margaret auf den blonden Schopf. Tante
Judith griff nach den Papierhandtüchern.
Robert räusperte sich. »Dürfen wir daraus schließen, dass du uns
verziehen hast, dass wir dir am letzten Wochenende Hausarrest gegeben
haben?«
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Oh. Elena überlegte krampfhaft, wie sie darauf am besten reagieren soll-
te. Nachdem sie monatelang allein gelebt hatte, erschien ihr die Idee, aus-
gerechnet von Tante Judith und Robert Hausarrest zu bekommen,
geradezu lächerlich. Trotzdem riss sie die Augen auf und machte eine
zerknirschte Miene. »Es tut mir wirklich leid, Tante Judith und Robert. Es
wird nicht wieder vorkommen.« Was immer es auch war.
Roberts Schultern entspannten sich. »Dann wollen wir kein Wort mehr
darüber verlieren«, erklärte er mit offensichtlicher Erleichterung. Er schob
eine heiße Waffel auf ihren Teller und reichte ihr den Sirup. »Hast du für
heute etwas Schönes geplant?«
»Stefano holt mich nach dem Frühstück ab«, antwortete Elena, dann
hielt sie inne. Als sie das letzte Mal mit Tante Judith gesprochen hatte,
nach dem katastrophalen Gründungsfest, waren sie und Robert absolut ge-
gen Stefano gewesen. Sie hatten wie die meisten in der Stadt den Verdacht
gehegt, er sei für Mr Tanners Tod verantwortlich.
Aber in dieser Welt, hier und jetzt, schienen sie keinerlei Probleme mit
Stefano zu haben, denn Robert nickte nur. Und überhaupt, so rief sie sich
ins Gedächtnis, wenn die Wächter getan hatten, worum sie sie gebeten
hatte, war Mr Tanner am Leben. Also konnte gar niemand Stefano ver-
dächtigen, ihn getötet zu haben … Oh, es war alles so kompliziert!
Erleichtert fuhr Elena fort: »Wir werden in der Stadt rumhängen und
uns vielleicht mit Meredith und den anderen treffen.« Sie konnte es kaum
erwarten, die Stadt wieder so zu sehen, wie sie früher war, hübsch, ordent-
lich und sicher. Sie konnte es kaum erwarten, mit Stefano zusammen zu
sein und ausnahmsweise einmal nicht gegen etwas schrecklich Böses zu
kämpfen. Sie konnte es kaum erwarten, einfach ein ganz normales Paar
mit ihm abzugeben.
Tante Judith grinste. »Also, ein ganz gewöhnlicher, fauler Tag, hm ? Ich
freue mich so für dich, dass du einen schönen Sommer hast, bevor du aufs
College gehst, Elena. Du hast das ganze letzte Jahr über so hart
gearbeitet.«
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»Mmm«, machte Elena vage – und sich über ihre Waffel her. Sie hoffte,
dass die Wächter ihr wie gewünscht einen Platz in Dalcrest verschafft hat-
ten, einem kleinen, zwei Stunden entfernten College.
»Komm, setz dich an den Tisch, Maggie«, sagte Robert, während er But-
ter auf die Waffel des kleinen Mädchens strich. Margaret kletterte auf
ihren Stuhl, und Elena lächelte, als sie Roberts liebevolles Gesicht be-
trachtete. Margaret war offensichtlich sein Liebling.
Da knurrte Margaret plötzlich und feuerte den Spielzeugtiger quer über
den Tisch direkt auf Elena zu. Elena zuckte zusammen. Ihre kleine Sch-
wester fauchte, und auf ihrem Gesicht lag für einen Moment etwas Wildes.
»Er will dich mit seinen großen Zähnen fressen«, krächzte Margaret mit
ihrer Kleinmädchenstimme heiser, um möglichst furchterregend zu klin-
gen. »Er kommt, um dich zu holen .«
»Margaret!«, tadelte Tante Judith, während Elena schauderte. Der
wilde Ausdruck auf Margarets Gesicht erinnerte sie
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