Tagebuch eines Vampirs 8 - Jagd im Abendrot
ringst.
Als wären diese Gedanken von beschwörender Kraft gewesen, krächzte
über ihm plötzlich eine Krähe. Für einen Moment wartete Stefano nur da-
rauf, dass der Vogel zur Erde stürzen und sich in seinen Bruder verwan-
deln würde. Als nichts dergleichen geschah, stieß Stefano ein kurzes
Lachen über seine eigene Dummheit aus und war überrascht, dass es bei-
nahe wie ein Schluchzen klang.
Damon würde niemals zurückkommen. Sein Bruder war fort. Nach
Jahrhunderten der Verbitterung hatten sie gerade erst mit dem Versuch
begonnen, die hassliebenden Wogen ihrer Beziehung zu glätten; sie hatten
sich zusammengetan, um gegen das Böse zu kämpfen, das immer wieder
aufs Neue Fell’s Church aufsuchte – und gemeinsam hatten sie Elena
beschützt. Aber jetzt war Damon tot. Und Stefano war der Einzige, der
Elena und ihre Freunde noch beschützen konnte.
Eine unbestimmte Angst erwachte in seiner Brust. Es gab so vieles, was
schiefgehen konnte. Menschen waren verletzbar. Und nun, da Elena über
keine speziellen Kräfte mehr verfügte, war sie so verletzbar wie alle
anderen.
Bei diesem Gedanken wurde ihm schwindlig. Sofort setzte er sich in
Bewegung und rannte direkt auf Elenas Haus am anderen Ende des
Waldes zu. Er trug jetzt die Verantwortung für Elena. Und er würde
niemals zulassen, dass ihr noch einmal ein Leid angetan wurde.
Der obere Treppenabsatz sah fast genauso aus, wie Elena ihn in Erinner-
ung hatte: glänzendes, dunkles Holz mit einem orientalischen Läufer, eini-
gen kleinen Tischchen mit Nippessachen und Fotografien darauf, und vor
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dem großen Panoramafenster stand ein Sofa, von dem aus man einen Blick
auf die Einfahrt hatte.
Aber auf halbem Weg die Treppe hinunter hielt Elena inne, denn sie
entdeckte etwas Neues. Unter den silbergerahmten Fotos, die hier an der
Wand hingen, war auch ein Bild von ihr selbst, Meredith und Bonnie, die
Gesichter dicht beieinander. Sie trugen einen Talar und ein Barett mit
Quaste, grinsten breit und schwangen stolz ihre Diplome. Elena nahm das
Foto von der Wand und sah es sich genauer an. Offensichtlich hatte sie
ihren Abschluss an der Highschool gemacht.
Es war ein seltsames Gefühl, diese andere Elena zu sehen, wie sie mit
ihren besten Freundinnen um die Wette lächelte – das blonde Haar zu
einem eleganten französischen Zopf zurückgebunden, die cremefarbene
Haut vor Aufregung gerötet. Elena konnte sich an nichts von alldem erin-
nern. Und diese andere Elena sah so sorglos aus, so voller Glück und
Hoffnung und Erwartungen, was die Zukunft betraf. Diese Elena wusste
nichts von dem Grauen der Dunklen Dimension oder von dem Chaos, das
die Kitsune angerichtet hatten. Diese Elena war glücklich.
Während sie nun ihren Blick rasch über die anderen Fotos gleiten ließ,
entdeckte Elena einige weitere, die sie noch nicht kannte. Anscheinend
war diese andere Elena Königin des Winterballs gewesen, obwohl Elena
sich genau daran erinnerte, dass nach ihrem Tod Caroline die Krone dieses
Balls getragen hatte. Auf dem Foto war jedoch Elena die in himmelblaue
Seide gehüllte Königin, umringt von ihrem Hofstaat: Bonnie luftig und za-
uberhaft in glänzendem, blauem Taft; Meredith elegant in Schwarz; die
enttäuschte Caroline in einem engen, silberfarbenen Kleid, das wenig von
ihrer Figur der Fantasie überließ; und Sue Carson, die hübsch und
quicklebendig in Hellrosa direkt in die Kamera lächelte. Einmal mehr
brannten Tränen in Elenas Augen. Sie hatten sie gerettet. Elena, Meredith,
Bonnie und Matt und Stefano hatten Sue Carson gerettet.
Dann fiel Elenas Blick auf ein anderes Foto, das Tante Judith in einem
langen Hochzeitskleid aus Spitze zeigte, während Robert stolz in einem
Cut neben ihr stand. Auch diese andere Elena, offensichtlich die
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Brautjungfer, war darauf in einem blattgrünen Kleid und mit einem Strauß
rosa Rosen im Arm zu sehen. Neben ihr stand Margaret, den glänzenden,
blonden Schopf schüchtern gesenkt, während sie mit einer Hand Elenas
Kleid umklammert hielt. Sie selbst trug ein ausgestelltes, weißes Blumen-
mädchenkleid mit einer breiten, grünen Schärpe, und hielt in ihrer freien
Hand einen Korb mit Rosen.
Elenas Hände zitterten ein wenig, als sie das Bild wieder an die Wand
hängte. Offensichtlich hatten sich alle bestens amüsiert. Es war so traurig,
dass sie nicht wirklich dabei gewesen war.
Unten klapperte Geschirr, und sie hörte Tante Judith lachen. Schnell
schob
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