Tagebuch eines Vampirs 8 - Jagd im Abendrot
lang schweigend zur Decke hinauf. »Hör zu«, sagte er schließlich
und verschränkte die Finger über der Brust. »Du hast Stefanos Gewaltpo-
tenzial einfach immer unterschätzt.«
»Er ist nicht gewalttätig«, widersprach Elena hitzig. »Er trinkt nicht ein-
mal menschliches Blut.«
»Er trinkt kein menschliches Blut, weil er nicht gewalttätig sein will. Er
will niemandem wehtun. Aber, Elena« – Damon griff nach ihrer Hand –,
»auch mein kleiner Bruder hat seinen Jähzorn. Wenn irgendjemand das
weiß, dann bin ich das.«
Elena schauderte. Sie wusste, dass Stefano und Damon, als sie noch
Menschen gewesen waren, einander im Zorn getötet hatten, im Zorn über
das, was sie für Catarinas Tod hielten. Doch Catarinas Blut war bereits in
ihrer beiden Körper gewesen, und so waren sie als Vampire wiederaufer-
standen. Ihre Wut über eine verlorene Liebe und ihre Eifersucht hatten sie
beide vernichtet.
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»Allerdings«, fuhr Damon fort, »so sehr es mich schmerzt, das
zuzugeben, würde Stefano dir niemals wehtun, und er würde auch
niemandem sonst ohne echten Grund wehtun. Nicht ohne die Art von
Grund, die du gutheißen würdest. Heute nicht mehr. Er mag seinen
Jähzorn haben, aber er hat auch sein Gewissen.« Er grinste ein wenig und
fügte hinzu: »Natürlich eine aufreizende, selbstgerechte Art von Gewissen,
aber ein Gewissen. Und er liebt dich, Elena. Du bist seine ganze Welt.«
»Vielleicht hast du recht«, räumte Elena ein. »Aber ich habe trotzdem
Angst. Und ich wünschte, du wärst bei mir.« Sie sah ihn an, jetzt so schlä-
frig und vertrauensvoll wie ein müdes Kind. »Damon, ich wünschte, du
wärst nicht tot. Ich vermisse dich. Bitte, komm zu mir zurück.«
Damon lächelte und küsste sie sanft. Aber dann entzog er sich ihr, und
Elena konnte spüren, wie der Traum sich veränderte. Sie versuchte, sich
an den Augenblick zu klammern, aber er verblasste, und Damon war
wieder verloren.
»Sei bitte vorsichtig, Damon«, sagte Sage. Sorgenfalten bildeten sich auf
seiner bronzefarbenen Stirn.
Es kam nicht oft vor, dass der muskulöse Hüter des Torhauses besorgt
wirkte – oder sich in einem Satz auf nur eine Sprache beschränkte –, aber
seit Damon von den Toten aus der Asche zurückgestolpert gekommen war,
hatte Sage nur noch leise und deutlich mit ihm gesprochen und den Vam-
pir behandelt, als könne er jeden Augenblick zerbrechen.
»Ich bin immer vorsichtig«, erwiderte Damon und lehnte sich an die
Wand des mystischen Aufzugs. »Natürlich nur dann, wenn ich nicht
gerade atemberaubend mutig bin.« Doch noch während er die Worte auss-
prach, klang seine eigene Stimme in Damons Ohren irgendwie falsch:
heiser und zögernd.
Sage schien diesen Klang ebenfalls wahrzunehmen, und er verzog sein
Gesicht. »Du kannst länger bleiben, wenn du willst.«
»Ich muss gehen«, erwiderte Damon erschöpft. »Sie ist in Gefahr. Aber
ich danke dir für alles, Sage.«
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Ohne Sage wäre er jetzt nicht hier. Der mächtige Vampir hatte Damon
gewaschen, ihm Kleider gegeben – elegant und schwarz und in der richti-
gen Größe – und ihn mit Blut und schwarzmagischem Wein versorgt, bis
er Damon vom Abgrund des Todes zurückgerissen hatte und sein Freund
wieder wusste, wer er war. Und wer Sage war.
Aber … Damon fühlte sich nicht wie er selbst. Es war ein seltsamer, leer-
er Schmerz in ihm, als habe er etwas zurückgelassen, tief unter der Asche
vergraben.
Sage runzelte noch immer die Stirn und musterte ihn mit ernster Miene.
Damon riss sich zusammen und schenkte Sage ein plötzliches, strahlendes
Lächeln. »Wünsch mir Glück«, sagte er.
Das Lächeln half: Das Gesicht des anderen Vampirs entspannte sich.
»Bonne chance, mon ami«, sagte er. »Ich wünsche dir alles erdenkliche
Glück.«
Aha, französisch, dachte Damon. Ich muss also wieder besser aussehen.
»Fell’s Church«, sagte er dann ins Leere hinein. »Die Vereinigten
Staaten, das Reich der Sterblichen. Irgendwo, wo ich mich verstecken
kann.«
Er hob seine Hand zu einem feierlichen Gruß, nickte Sage zu und
drückte auf den einzigen Knopf des Aufzugs.
Als Elena erwachte, war es dunkel. Fast automatisch überprüfte sie kurz
ihre Umgebung: glatte, frisch und sauber duftende Laken, fahles Licht
vom Fenster rechts hinter dem Fußende ihres Bettes, das schwache Sch-
narchen von Robert aus seinem und Tante Judith’ Schlafzimmer am an-
deren Ende des Flurs. Ihr eigenes altes, vertrautes
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