Tagebuch eines Vampirs 9 - Jagd im Mondlicht
schön, gelobt zu werden, aber manchmal trug Ethan ein
wenig zu dick auf: vollkommen ? Matt bezweifelte, dass das überhaupt
möglich war. Man konnte sich doch immer darum bemühen, in irgendet-
was besser zu werden. Aber selbst wenn Vollkommenheit doch möglich
sein sollte, dann – so vermutete er – würde dazu wohl mehr gehören als
ein paar Hindernisläufe und andere mehr oder weniger knifflige
Bewährungsproben.
»Jetzt ist es an der Zeit, endlich eure wahre Aufgabe zu entdecken«,
fuhr Ethan fort. »Zeit, das letzte Stadium eurer Verwandlung von
gewöhnlichen Studenten zu privilegierten Wesen der Macht zu vol-
lenden.« Er nahm einen sauberen, glänzenden silbernen Kelch vom Altar
und tauchte ihn in die tiefe steinerne Schale vor ihm. »Aber für jeden
Fortschritt in der Evolution muss ein Opfer erbracht werden. Ich bedaure
den Schmerz, den euch dies verursachen wird. Fühlt euch getröstet von
dem Wissen, dass alles Leiden vorübergehend ist. Anna, tritt vor.«
Ein leises unbehagliches Raunen lief durch die Kandidatenreihe. Dieses
Gerede von Leiden und Opfer unterschied sich deutlich von Ethans üb-
lichen Worten, die sich immerzu um Ehre und Macht gedreht hatten .
Matt runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Aber Anna, die in ihrem langen Umhang winzig aussah, ging ohne zu
zögern zum Altar und schob ihre Kapuze zurück.
»Trinke von mir«, sagte Ethan und reichte ihr den silbernen Kelch.
Anna blinzelte unsicher, dann leerte sie den Kelch, den Kopf in den Nack-
en gelegt, den Blick auf Ethan gerichtet. Als sie ihn Ethan zurückgab,
leckte sie sich automatisch die Lippen, und Matt versuchte, sie etwas
genauer zu betrachten. In dem flackernden Kerzenlicht sahen ihre Lippen
unnatürlich rot und glitschig aus.
Ethan führte sie um die Seite des Altars herum und in seine Arme. Er
lächelte. Dann verzerrte sich sein Gesicht, seine Augen weiteten sich und
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sein Mund öffnete sich zu einem Knurren. Seine Zähne sahen so lang aus,
so scharf. Matt versuchte, eine Warnung zu rufen, doch zu seinem Entset-
zen begriff er, dass er die Lippen nicht bewegen konnte, dass er nicht ein-
mal Luft holen konnte, um zu schreien.
Schlagartig wurde ihm klar, welch ein Narr er gewesen war.
Ethan versenkte seine Reißzähne tief in Annas Hals. Matt spannte die
Muskeln an und versuchte hinüberzurennen, um Ethan anzugreifen und
ihn von Anna wegzureißen, aber er konnte sich nicht bewegen. Er musste
unter irgendeinem Bann stehen. Oder vielleicht war etwas in diesem
Getränk gewesen, irgendeine magische Zutat, die sie alle fügsam machte
und ruhig stellte. Hilflos musste er mit ansehen, wie Anna sich einige
Sekunden lang wehrte und dann erschlaffte. Ihre Augen rollten nach
oben.
Ethan ließ ihren Körper unsanft zu Boden fallen. »Habt keine Angst«,
sagte er freundlich und schaute die entsetzten, erstarrten Kandidaten an.
»Wir alle« – er deutete auf die stummen, maskierten Mitglieder hinter
sich – »haben dieses Ritual vor Kurzem durchlaufen. Ihr müsst euch nur
darauf gefasst machen, einen kleinen, vorübergehenden Tod zu erleiden,
und dann werdet ihr einer von uns sein, ein wahres Society-Mitglied. Ihr
werdet niemals alt, niemals sterben. Ihr werdet für immer mächtig sein.«
Seine scharfen weißen Zähne und seine goldenen Augen glänzten im
Kerzenlicht, während Matt sich verzweifelt bemühte, alle Kraft zusam-
menzunehmen und zu schreien, zu kämpfen. Doch Ethan wählte bereits
den nächsten Anwärter aus. »Henry, tritt vor.«
Elena roch so gut, kräftig und süß wie eine exotische, reife Frucht. Damon
hätte am liebsten einfach seinen Kopf an der weichen Haut ihrer Hals-
beuge vergraben und für ein oder zwei Jahrzehnte nur ihren Duft eingeat-
met. Er legte seinen Arm um ihr Taille und zog sie enger an sich.
»Du kannst nicht mit reinkommen«, erklärte sie ihm zum zweiten Mal.
»Vielleicht schaffe ich es, James dazu zu bringen, mit mir zu reden, weil
es um meine Eltern geht, aber ich glaube nicht, dass er mir irgendetwas
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verraten wird, wenn jemand anderer dabei ist. Was immer die Wahrheit
über die Vitale Society oder meine Eltern ist, ich fürchte, es ist ihm pein-
lich. Oder er hat Angst oder … sonst etwas.« Ohne darauf zu achten, was
sie tat, klammerte sich Elena fest an Damons Arm.
»Na schön«, sagte er halsstarrig. »Aber ich werde draußen warten. Ich
werde mich zwar nicht blicken lassen, aber du wirst auf keinen
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