Tagebuch eines Vampirs 9 - Jagd im Mondlicht
feste Umrisse unter ihrer Bettdecke zu sehen.
Gewiss hätte Meredith etwas gesagt, wenn sie Damon auf dem Boden
bemerkt hätte, dachte Elena, als sie die Mensa betrat, um sich vor ihrem
ersten Seminar einen Muffin zu schnappen. Vielleicht war Damon gar
nicht geblieben.
Auf dem Weg zu ihrem Geschichtskurs dachte Elena mit zusammenge-
pressten Lippen über diese Möglichkeit nach. Sie hatte fest damit gerech-
net, dass er bleiben würde, dass er versuchen würde, sie zu beschützen.
Aber es war nicht richtig, dass ihr das gefiel und dass sie mehr als einen
Anflug von Gekränktheit bei dem Gedanken empfand, dass er fortgegan-
gen war, oder?
Sie wollte doch nicht, dass Damon sie liebte, oder? War das nicht einer
der Gründe, warum sie ihre Beziehung mit Stefano auf Eis gelegt hatte?
Damit sie und Damon einander vergessen konnten? Aber …
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Ich bin ein schlechter Mensch, sagte sie sich.
Sie grübelte über ihre eigene Schlechtigkeit nach, bis sie im Hörsaal saß
und Professor Campbell – James – auftauchte. Er räusperte sich, ging zu
seinem Pult und Elena lenkte widerstrebend ihre Aufmerksamkeit von
ihren Problemen auf den Unterricht.
James sah anders aus. Irgendwie verunsichert, dachte Elena. Seine Au-
gen strahlten nicht ganz so wie sonst, seine gesamte Erscheinung wirkte
kleiner.
»Es ist noch jemand verschwunden«, sagte er leise. Ängstliches Gemur-
mel erfüllte den Raum und James hob die Hand. »Das Opfer – und ich
denke, wir müssen an diesem Punkt von einem Opfer sprechen, nicht
mehr von Studenten, die einfach den Campus verlassen haben – ist be-
dauerlicherweise eine Studentin aus diesem Kurs. Courtney Brooks. Sie
wurde zuletzt gesehen, als sie in der vergangenen Nacht von einer Party
zu ihrem Wohnheim zurückging.«
Elena ließ ihren Blick durch den Saal schweifen und versuchte, sich
daran zu erinnern, wer Courtney Brooks war. Ein großes, stilles Mädchen
mit karamellfarbenem Haar, dachte sie und entdeckte den leeren Platz.
James hob wieder die Hand, um die aufkommende Unruhe durch die
verängstigten und erregten Stimmen zu beschwichtigen. »Deswegen«,
fuhr er langsam fort, »müssen wir unsere weitere Diskussion über die Ko-
lonialzeit verschieben, damit ich Ihnen ein klein wenig über die
Geschichte von Dalcrest erzählen kann.« Er betrachtete die verwirrten
Gesichter seiner Studenten. »Denn Sie müssen wissen, dass auf diesem
Campus nicht zum ersten Mal ungewöhnliche Dinge geschehen.«
Elena runzelte ebenso überrascht wie ihre Kommilitonen die Stirn.
»Dalcrest wurde, wie viele von Ihnen zweifellos wissen, im Jahr 1889
von Simon Dalcrest mit dem Ziel gegründet, die wohlhabenden Söhne der
Nachkriegsgesellschaft des Südens auszubilden. Er sagte, er wolle, dass
Dalcrest als ›Harvard des Südens‹ angesehen werde. Er und seine Familie
sollten an der Spitze der akademischen Welt und der intellektuellen Elite
des bald anbrechenden neuen Jahrhunderts stehen. So heißt es vielfach in
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der offiziellen Geschichtsschreibung über den Campus. Weniger gut
bekannt ist jedoch, dass Simons Hoffnungen bereits 1895 zu-
nichtegemacht wurden, als sein wilder, zwanzig Jahre alter Sohn, William
Dalcrest, zusammen mit drei anderen in den unterirdischen Gängen des
Colleges tot aufgefunden wurde. Es schien sich um einen Selbstmordpakt
zu handeln. Gewisse Materialien und Symbole, die sich zusammen mit
den Leichen in den Tunneln befanden, ließen auf eine Verbindung zu Sch-
warzer Magie schließen. Zwei Jahre später wurde Simons Ehefrau, Julia
Dalcrest, brutal in dem Gebäude ermordet, in dem sich jetzt die Verwal-
tung befindet; das Rätsel um ihren Tod wurde nie gelöst.«
Elena sah sich unter ihren Kommilitonen um. Hatten die anderen das
gewusst? Die College-Broschüren erwähnten lediglich, wann Dalcrest
gegründet worden war und von wem, aber von Selbstmorden oder
Morden war keine Rede. Unterirdische Gänge?
»Julia Dalcrest ist eine der letzten drei Geister, die angeblich auf dem
Campus spuken. Der zweite Geist ist der eines siebzehn Jahre alten Mäd-
chens, das – ebenfalls unter mysteriösen Umständen – ertrank, als es
1929 auf einem Ball zu Besuch war. Es wandert angeblich wehklagend
durch die Hallen von McCullen House und hinterlässt Wasserpfützen.
Der dritte Geist ist der eines einundzwanzigjährigen Mannes, der 1953
verschwand und dessen Leichnam drei Jahre später im Bibliothekskeller
gefunden wurde. Berichten
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